Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik. Arthur Rosenberg

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war, machten jeden stetigen Kurs unmöglich. Wilhelm II. vertrug zwar in Einzelfragen den Widerspruch seiner Minister, aber er duldete niemand, der konsequent ein bestimmtes System in der Innen- und Außenpolitik verfolgte. Seine eigene Launenhaftigkeit wurde noch durch die vielfachen höfischen Einflüsse gesteigert, denen er ausgesetzt war. So hat Deutschland eigentlich von 1890 bis 1916 überhaupt keine Regierung gehabt, sondern es wurden zufällig und prinzipienlos die laufenden Geschäfte erledigt.

      Auch unter Wilhelm II. ist in manchen Ressorts solide Arbeit geleistet worden, was in einzelnen Gesetzeswerken zutage trat. Aber es war niemand da, der die Gesamtsituation Deutschlands erfaßte und auf ein bestimmtes Ziel hinarbeitete. So schuf das System Wilhelms II. ein politisches Chaos. Nur der Zufall, daß Deutschland bis 1914 ein ernsthafter Krieg erspart blieb, hat den Zusammenbruch so lange hinausgeschoben.

      Daß die Regierung Wilhelms II. ein solches Unheil über Deutschland brachte, ist aber weniger die persönliche Schuld des Kaisers als die Folge der Verfassung von 1871. In konstitutionellen Monarchien hat die Persönlichkeit des Regenten keine entscheidende Bedeutung. Aber auch absolute Monarchien haben schwere Krisen unter der Regierung von durchaus unzulänglichen Persönlichkeiten überstanden. Man denke an Österreich und Rußland in der napoleonischen Zeit. Kaiser Franz von Österreich und Alexander I. von Rußland waren wirklich keine Männer, die ihrem Staat eine besondere Stütze bieten konnten. Österreichs Situation war 1809 nach der Schlacht bei Wagram ungefähr ebenso hoffnungslos wie die Preußen-Deutschlands im Herbst 1918. Ebenso ernst war die Lage Rußlands 1812, als Napoleon in Moskau stand. Trotzdem bestand damals weder in Österreich noch in Rußland eine Revolutionsstimmung. Auch absolute Monarchien können sehr stabil sein, wenn sie der traditionelle Ausdruck der wirtschaftlich und gesellschaftlich herrschenden Schicht sind.

      Der Absolutismus war im alten Österreich, wie im alten Rußland, die Herrschaftsform der dort regierenden Aristokratie. Der Kaiser war zwar formal allmächtig. In Wirklichkeit mußte er die traditionell festgelegte Innen- und Außenpolitik seines Reiches weiterführen. War er nicht imstande, das selbst zu tun, so fanden sich Ratgeber, die ihm als Minister im Sinne der Tradition beistanden. Sabotierte er aber und lähmte er die Staatsgeschäfte durch seine Launen, so wurde er von der Aristokratie abgesetzt, wie Peter III. und Paul von Rußland. Jedoch dachte dort niemand an eine Verfassungsänderung. Sondern an Stelle des alten trat ein neuer »absoluter« Monarch, der, durch das Schicksal seines Vorgängers belehrt, die traditionelle Politik fortsetzte. So war es möglich, daß auch absolute Monarchien jahrhundertelang eine konsequente Politik verfolgten, ohne durch die Person unzulänglicher Herrscher behindert zu werden.

      Das Bismarcksche Deutschland war weder ein konstitutioneller Staat noch eine absolute Monarchie mit fester Tradition. Die Kräfte, auf denen das Reich beruhte, hatten keine organische Verbindung. Bismarcks Prinzipien waren nicht im entferntesten den herrschenden Schichten in Fleisch und Blut übergegangen. Der Ausgleich zwischen dem preußischen Militäradel und den übrigen im Reiche wirksamen Kräften lag ausschließlich in der Hand des Regenten. In diesem Sinn war das Reich Bismarcks eine bonapartistische Schöpfung, und sein Wohl und Wehe hing in weitem Umfang von der Person des Herrschers ab, mochte dies nun der regierende Kaiser oder ein regierender Reichskanzler sein. Bismarck hat nach seinem Sturz die Fehler Wilhelms II. rücksichtslos kritisiert. Aber er trägt dennoch für sie die Mitverantwortung. Denn die Verfassung, die das Schicksal Deutschlands in die Hand Wilhelms II. legte, war Bismarcks Werk.

      Unter Wilhelm II. verstärkte der preußische Großgrundbesitz seine Verbindung mit den evangelischen Bauernmassen des Reichs: Der »Bund der Landwirte« wurde zu einer politischen Großmacht. Versuche, ein kleinbäuerliches Konkurrenzunternehmen gegen den »Bund der Landwirte« ins Leben zu rufen, hatten keinen nennenswerten Erfolg. Das evangelische Dorf blieb bis zum Weltkrieg unter konservativer Herrschaft, wenn auch ein Teil der Landarbeiter bei der geheimen Reichstagswahl einen »roten« Stimmzettel abgab. Seitdem Bismarcks schwere Hand von ihnen genommen war, konnte niemand mehr die preußischen Konservativen zu Zugeständnissen an Bürger und Arbeiter zwingen. Unbedingt verteidigten sie ihre Privilegien in Armee und Verwaltung. Die Zoll- und Steuerpolitik mußte nach ihren Wünschen gestaltet werden. Als besonders kostbarer konservativer Besitz galt jetzt das preußische Dreiklassenwahlrecht, an dem nicht gerüttelt werden durfte. Wilhelm II. hatte weder die Kraft noch den Willen, irgendwo den preußisch-aristokratischen Einfluß zurückzudrängen. Die preußischen Konservativen waren durchaus nicht mit allen Handlungen des Kaisers einverstanden. Urteilsfähige Konservative hatten ihre Sorgen über manche Züge des persönlichen Regiments und besonders über die kaiserliche Außenpolitik. Aber die Konservativen dachten an keine Verfassungsreform, um die Macht des Kaisers einzuschränken. Sie waren der Ansicht, daß jede Veränderung der Verfassungsverhältnisse ihre Position schwächen würde, und so ließen sie alles beim alten.

      Das liberale Bürgertum nahm an wirtschaftlicher Macht unter Wilhelm II. ständig zu. Aber sein parlamentarischer Einfluß ging zurück. Im preußischen Landtag herrschten die Agrarier. Bei den Reichstagswahlen fielen die großstädtischen und industriellen Bezirke in steigendem Maße den Sozialdemokraten zu. Die liberalen Parteien behaupteten mit Mühe und Not eine Anzahl Mandate, vor allem aus kleinstädtischen Bezirken. Eine Parlamentarisierung Deutschlands hätte in erster Linie den Übergang der Macht von den Agrarkonservativen zu den bürgerlichen Liberalen bringen müssen. Aber die Schwäche der Liberalen im Reichstag, wo sie meistens kaum ein Viertel der Sitze hatten, machte den Gedanken der parlamentarischen Regierung damals noch aussichtsloser, als er schon an sich war.

      Der Einfluß des Bürgertums auf die Reichspolitik vollzog sich infolgedessen gar nicht durch das Parlament, sondern durch persönliche Bearbeitung des Kaisers. Wilhelm II. war persönlich zu den Führern von Industrie und Handel sehr entgegenkommend. Er zog sie an seinen Hof und gab ihnen Adel und Titel. Wenn eine große Firma in geschickter Weise ihre Auslandsinteressen beim Kaiser vertrat, konnte sie alles erreichen. Wilhelm II. war jederzeit bereit, die Autorität des Reichs für das Geschäft einer jeden großen Firma einzusetzen. Das bekannteste Beispiel ist die Beeinflussung der Reichspolitik durch das Bagdadbahn-Geschäft der Deutschen Bank. Wilhelm II. war hier wie auf allen Gebieten völlig planlos. Das Verhängnis für das Reich, das aus solchen Einzelunternehmungen und entsprechenden politischen Aktionen hervorgehen konnte, bedachte er nicht.

      Der persönliche Einfluß, den Männer wie Ballin beim Kaiser hatten, konnte aber die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß das Bürgertum als Klasse in der deutschen Politik keine Macht hatte. Deutschland wurde unter Wilhelm II. konservativ-agrarisch regiert, und das Bürgertum stand daneben. Die nationalliberalen Industriellen bewahrten freilich die aus der Bismarck-Zeit ererbte Loyalität. Um 1890 hatte es so ausgesehen, als beabsichtige der Kaiser einen entschlossenen sozialpolitischen Kurs auch gegen die Industrie. Aber als Wilhelm II. sah, daß er mit seinen Reden und mit kleinen Geschenken die Sozialdemokraten nicht gewinnen konnte, schlug seine Stimmung rasch um. Es wurde unter Wilhelm II. nicht mehr Sozialpolitik getrieben, als die Industrie ertrug. So blieben die Nationalliberalen eine feste Stütze der Regierung im Reichstag. Sie traten für die Flotten- und Kolonialpolitik ein und bildeten zusammen mit Konservativen und Zentrum die Mehrheit für die Schutzzölle. Die Fabrikanten sahen in der starken Regierungsgewalt einen willkommenen Schutz gegen die Arbeiter. Die »freisinnige« Kaufmannschaft hatte keine so scharfe Kampfstellung gegen die Arbeiter, und sie lehnte nach wie vor die Schutzzölle ab. Trotzdem war der Oppositionswille der »Freisinnigen« im Reichstag gering, und wenn die Regierung sich darum bemühte, konnte sie auch die freisinnigen Stimmen haben, zumal nach dem Tode Eugen Richters.

      Trotzdem wäre es verfehlt, die Stimmung des deutschen Bürgertums in der wilhelminischen Zeit nur nach der Haltung der liberalen Parlamentarier zu beurteilen. Zwar war das Bürgertum im ganzen durchaus verfassungstreu, und niemand strebte eine gewaltsame Umwälzung an. Es wirkte sich immer noch aus, wie in der Bismarck-Zeit der politische Machtwille des Bürgertums gebrochen worden war. Aber die Mißstimmung über das herrschende System trat doch bei den verschiedensten Gelegenheiten zutage.

      In den Jahren 1890 bis 95 häuften sich die Huldigungen für Bismarck, und zwar vor allem aus den Kreisen des Bürgertums und der akademisch gebildeten Schichten. Der preußische Adel hielt sich gegenüber Bismarck viel mehr zurück. Die Bismarck-Begeisterung war vielfach nur der Ausbruch der Reichstreue und nationalen Stimmung. Aber dabei war doch ein starker


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