Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik. Arthur Rosenberg

Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik - Arthur Rosenberg


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hätte. Aber um daraus ein lebensfähiges neues System zu entwickeln, hätte man erst die Machtstellung des militärischen Adels in Preußen zerschlagen müssen, und das traute sich damals niemand zu.

      Deshalb war das Zentrum damals von einer solchen Kombination nicht begeistert, und es zog noch ein friedliches Zusammengehen mit den Konservativen einer solchen revolutionären Aktion vor. Im Bürgertum war ebenfalls seit mehreren Jahrzehnten der politische Machtwille ständig gesunken. Was das deutsche Bürgertum mit aller Geisteskraft und aller Opferwilligkeit von 1848 bis 1866 vergeblich erstrebt hatte, das hatten der König von Preußen und Bismarck mit einigen gewaltigen Schlägen zustande gebracht. Nun sah man seit 1871, wie Bismarck, ohne sich von den Parteipolitikern viel stören zu lassen, das Deutsche Reich ausbaute, wie die Weltgeltung Deutschlands von Jahr zu Jahr ohne neuen Krieg zunahm, wie die Wirtschaftskurve nach oben ging und wie die innerdeutschen Verhältnisse scheinbar ganz stabil wurden. So gewöhnte sich die große Mehrheit des Bürgertums, vor allem die intellektuellen und die akademischen Kreise, daran, dem eigenen politischen Urteil zu mißtrauen. Statt dessen verließ man sich darauf, daß die Regierung in Berlin schon alles richtig machen würde.

      Gewiß war es richtig, daß Bismarck und Wilhelm I. als politische Persönlichkeiten mehr bedeuteten und mehr leisteten als Lasker und Eugen Richter. Aber daraus machte man das Dogma von der preußischen Unfehlbarkeit und von Preußens historischer Mission. Ungefähr seit 1880 war politisch dem deutschen Bürgertum das Rückgrat gebrochen. Aber die historische Wahrheit zwingt festzustellen, daß diese Wandlung nicht durch Gewalt und Furcht entstanden ist. Unter welchem polizeilichen Druck stand das deutsche Bürgertum von 1815 bis 1848, und doch blieb es oppositionell und selbstbewußt! Nach 1871 war der physische Druck der Regierung auf das Bürgertum minimal. Was bedeuteten die paar Majestäts- und Bismarck-Beleidigungsprozesse gegenüber den Demagogenverfolgungen des Vormärz! Aber jetzt sah man sich einer ungeheueren politischen Leistung gegenüber, die trotz mancher Schönheitsfehler die nationalen Forderungen des deutschen Bürgertums erfüllte. Vor dieser Leistung brach der Oppositionswille des Bürgertums zusammen. Diese Stimmung war es, die den bismarckschen Nationalliberalen, weit über die Kreise der industriellen Interessen hinaus, Autorität verschaffte. Darum war die Opposition der Fortschrittler so lahm. Darum war das deutsche Ministerium Gladstone unter Bismarck nur ein Gespenst ohne Realität.

      Aber diese Einstellung des deutschen Bürgertums zur kaiserlichen Regierung war für das Reich durchaus kein idealer Zustand. Die geistige Kapitulation des Bürgertums, die gegenüber Bismarck und Wilhelm I. vielleicht noch zu rechtfertigen war, wurde absurd gegenüber Wilhelm II. und Bülow. In einer ernsten Krise mußte eine solche Gesinnung dazu führen, daß alles hypnotisiert nach oben starrte, und wenn die Regierung versagte, tat das Bürgertum aus eigener Initiative auch nichts. Nach 1890 war Bismarck entsetzt über die allgemeine Unterwürfigkeit und den Mangel an ernster Opposition gegen Wilhelm II., abgesehen von der Sozialdemokratie, die prinzipiell dem Reiche Bismarcks feindlich gegenüberstand. Aber Bismarck hätte sich sagen müssen, daß dieser beklagenswerte Zustand die Folge seiner eigenen Erziehung des deutschen Bürgertums war.

      Indessen in der Tagespolitik ging alles so, wie Bismarck es wollte. Bei den Reichstagswahlen von 1887 errang das Bismarcksche Kartell der Konservativen und Nationalliberalen einen großen Erfolg. Bismarck hatte jetzt im preußischen Landtag wie im deutschen Reichstag eine ihm ergebene Mehrheit. Im Lande hatte er neben der großen agrarkonservativen Bewegung die bürgerlichen, regierungstreuen Nationalliberalen. Der Kampf gegen das Zentrum hatte seine Schärfe verloren, und die Gruppe Eugen Richters war in dieser Situation nicht gefährlich. Aber es blieben zwei andere Gefahren für das System Bismarcks: Die extremen Konservativen der Richtung Stöcker hatten sich zwar parteimäßig nicht selbständig gemacht. Sie hatten es nicht verhindern können, daß die offizielle konservative Partei die Kartellpolitik mitmachte. Aber sie blieben unversöhnt, und sie wurden 1888 beim Regierungsantritt Wilhelms II. am Hof eine Großmacht. Zweitens entwickelte die sozialdemokratische Arbeiterbewegung trotz aller Unterdrückungsmaßregeln eine solche Kraft, daß sie das ganze System Bismarcks gefährdete. Der Kampf gegen die Stöckergruppe und gegen die Sozialdemokraten hat in gegenseitiger Wechselwirkung zum Sturze Bismarcks geführt.

      Die selbständige Klassenbewegung des deutschen Proletariats verbreitete sich in den siebziger und achtziger Jahren entsprechend der Aufwärtsentwicklung der deutschen Industrie. Die Sozialdemokratie kämpfte damals zunächst gegen die elende wirtschaftliche Situation der Arbeiter und entwickelte daneben das Programm politischer Machtübernahme, die Umwandlung Deutschlands in eine sozialistische Arbeiterrepublik. Bei dem geringen Prozentsatz der Sozialdemokraten innerhalb der deutschen Bevölkerung lag freilich damals das Endziel in weiter Ferne. Die Sozialdemokratie war bis 1887 im Reichstag kaum viel stärker als die polnische Nationalpartei. Putschistische Gewalttätigkeiten vermied die Sozialdemokratie vollkommen. Sie trieb ihre Propaganda im Rahmen der Gesetze. Mit den beiden Attentaten auf Wilhelm I. im Jahre 1878 hatte die Sozialdemokratie nichts zu tun. Die Vorbilder für jene Attentate lieferten die Aktionen der aktiven Anarchisten und der russischen Sozialrevolutionäre. Trotzdem benutzte Bismarck die durch die Attentate erzeugte Stimmung, um die sozialistische Bewegung unter ein Ausnahmegesetz zu stellen.

      Eine oppositionelle Klassenbewegung der Arbeiter konnte Bismarck in seinem Reich nicht gebrauchen. Bismarck hatte kein Verständnis für die sozialen Forderungen der Arbeiterschaft. Nicht einmal die Bestrebungen zur Sicherung der Sonntagsruhe und zur Einschränkung der Kinderarbeit in der Industrie fanden seine Billigung15. Wenn auch die Anfänge der deutschen sozialpolitischen Gesetzgebung in seine Herrschaftsperiode fallen, blieb er über den Wert und die Bedeutung solcher Maßregeln skeptisch. Noch viel weniger war Bismarck irgendwelchen Bestrebungen zugeneigt, den Arbeitern politisch ein Betätigungsfeld im Deutschen Reich einzuräumen. Die Struktur des Bismarckschen Reichs ließ einfach nichts anderes zu als die politische Unterdrückung der Arbeiterklasse. Im bismarckschen System war ja nicht einmal die Frage der politischen Mitarbeit des Bürgertums geklärt! Wenn man aber nicht einmal dem besitzenden Bürgertum die Mitregierung gestatten konnte, was sollte man da mit den politischen Forderungen der Arbeiter anfangen?

      Ferner bedeutete eine Politik, die in weitem Umfang den Arbeiterforderungen entgegenkam, einen Kampf gegen die Industrie, und Bismarck war unbedingt abgeneigt, einen solchen Kampf zu führen. Die Industriellen sollten ja Bismarcks Kerntruppe innerhalb des Bürgertums sein. Ihr Einfluß trug die Nationalliberale Partei. Die Industrie abstoßen, bedeutete für Bismarck das Bürgertum abstoßen. Darin sah er die Ersetzung seines bewährten Systems der Kräfte durch christlichsoziale stöckerische Experimente. Die Verstimmung der Arbeiterschaft war für Bismarck gegenüber der Verbitterung des besitzenden Bürgertums durchaus das kleinere Übel: Ohne das Bürgertum konnte man das Deutsche Reich nicht aufrechterhalten. Dagegen hielt Bismarck es absolut für möglich, die politische Arbeiterbewegung mit Gewalt niederzuwerfen.

      Bismarck hielt nur eine solche Staatsordnung für vernünftig und dauerhaft, in der die besitzenden Schichten, um die Monarchie geschart, die Macht besaßen. Dagegen müsse die Herrschaft der armen und besitzlosen Massen zum Chaos und zur Auflösung führen. Eine solche »reine Demokratie« habe als notwendige Folge die militärische Gewaltherrschaft eines einzelnen. Aufgabe einer vernünftigen Staatskunst sei es, der Gesellschaft Europas diesen Kreislauf zu ersparen16. Die staatspolitische Anschauung Bismarcks zeigt eine überraschende Ähnlichkeit mit den Theorien des Fürsten Metternich. Nur war Metternich viel mehr wissenschaftlicher Systematiker als Bismarck und deshalb in seinen Methoden viel starrer. Bismarck fürchtete, daß die Ereignisse der Pariser Kommune von 1871 sich in Deutschland wiederholen könnten. Er hatte 1871 mit der bürgerlichen republikanischen Regierung Frankreichs eine Einheitsfront gegen die Kommune gebildet und die Machthaber Frankreichs zur gewaltsamen Niederwerfung der Pariser Arbeiter mit allen Mitteln angetrieben und gefördert. Bismarck hielt genauso wie Metternich eine internationale Solidarität der europäischen Regierungen gegen die »rote Gefahr« für angebracht, wenn er sich auch durch diese Stimmung niemals zu Abenteuern verleiten ließ.

      Die beiden Attentate auf Wilhelm I. waren für Bismarck der Beweis, daß auch in Deutschland eine Kommune-Situation heranreifen könne. Er schlug deshalb gegen die Partei los, die sich mit der Pariser Kommune solidarisch erklärt hatte, gegen die Sozialdemokratie. Das Sozialistengesetz Bismarcks hat über Hunderte von Arbeitern und ihre Familien schwerstes


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