Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik. Arthur Rosenberg
Schicht hatte nun alle drei Faktoren der Gesetzgebung in der Hand: Königtum, Herrenhaus, Landtag. So wird der preußische Staat in allen seinen Teilen das konservative Bollwerk gegen die Ansprüche des Bürgertums und der Arbeiterschaft.
Auch außerhalb Altpreußens entwickelte der konservative Gedanke in seiner agrarischen Formulierung eine erstaunliche Werbekraft. Die evangelischen Bauernmassen in Hannover und Hessen-Nassau, aber auch in ganz Süddeutschland, trennten sich in steigendem Maße von ihren alten politischen Bindungen. Bis 1918 saßen im deutschen Reichstag, gewählt nach dem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht, in den Parteien des preußischen Feudaladels auch Bauernabgeordnete aus Bayern, Württemberg, Baden und sogar aus Elsaß-Lothringen11.
Bismarcks Zollpolitik führte ferner zu einer tiefgehenden Umwandlung des Zentrums. Dazu trug freilich auch der Friedensschluß zwischen dem Deutschen Reich und der Katholischen Kirche bei. Die Gefahr eines katholischen Blocks, der einen Revanchekrieg gegen das Deutsche Reich unternehmen könnte, war beseitigt: Denn in Frankreich war die klerikal-monarchistische Partei von den Republikanern zurückgedrängt worden, und mit Österreich schloß Bismarck gerade in jenen Jahren das Bündnis, das seitdem die Grundlage seiner Außenpolitik bildete. So war der Kampf zwischen Bismarck und dem Zentrum von seiner außenpolitischen Belastung befreit. Als Nebenzweck des Bundes mit Österreich strebte Bismarck direkt die Versöhnung der katholischen altkonservativen, sogenannten »großdeutschen« Tendenz innerhalb des Deutschen Reichs an. Das Bündnis Deutschlands und Österreichs sollte den alten Deutschen Bund in der Beziehung ersetzen, wo er etwas Wertvolles geboten hatte.
In der Tat hatte Bismarck erreicht, daß das Zentrum sich mit der Existenz des Deutschen Reiches, so wie es war, abfand und sich damit begnügte, im Rahmen der Reichsverfassung die föderalistischen Einrichtungen zu schützen und die katholische Kirche zu verteidigen. Aus der Offensive des Zentrums war eine loyale Defensive geworden. Soweit endete der Kulturkampf mit einem Siege Bismarcks, der nun die Kampfgesetze gegen den Katholizismus abbaute. Darüber hinaus wurde die agrarische Mehrheit des Zentrums zur Helferin der Wirtschaftspolitik der Regierung.
Unter den neuen Verhältnissen wurde das Zentrum zu einem politischen Faktor, der Bismarck in mancher Hinsicht gar nicht unangenehm war. Das Zentrum und die Katholische Kirche trugen dazu bei, breite Schichten städtischer, besonders proletarischer Bevölkerung politisch zu binden, die sonst in den Reihen der Sozialdemokraten oder Linksliberalen gestanden hätten12. Der katholische Hochadel, der seinen Frieden mit dem neuen Deutschen Reich geschlossen hatte, spielte in den Zentrumsfraktionen eine bedeutende Rolle und hatte die natürliche Neigung, mit den preußischen Konservativen zusammenzuarbeiten. Wer politische Fragen nur nach der taktischen Bequemlichkeit des Augenblicks ansah, konnte zu der Losung kommen, durch ein festes parlamentarisches Bündnis zwischen den Konservativen und dem Zentrum die Grundlage des Deutschen Reiches zu sichern. Seit die Konservativen sich in die große evangelische Agrarpartei verwandelt hatten, die auch von städtischen, loyalen, antikapitalistischen und antisemitischen Schichten Zuzug erhielt, war eine ziemlich sichere Reichstagsmehrheit aus Konservativen und Zentrum vorhanden.
Dabei waren die Ansprüche, die das Zentrum stellte, überaus bescheiden: Das Zentrum verlangte weder die Parlamentarisierung noch einen Umbau des altpreußischen Staatssystems. Das Zentrum war zufrieden, wenn manchmal ein aktiver Katholik in Preußen Landrat oder Richter werden konnte. Die Hauptforderungen des Zentrums, keine Umänderung der Verfassung im Sinne einer stärkeren Zentralisierung, kein Kampf gegen die Katholische Kirche und eine gemäßigte Sozialpolitik im Interesse der christlichen Arbeiter, enthielten nichts, was der Regierung und den preußischen Konservativen unangenehm war. Die Konservativen waren daher immer geneigt, das Bündnis mit dem Zentrum jedem Zusammengehen mit den Liberalen vorzuziehen.
Bismarck dagegen hat mit unbedingter Hartnäckigkeit sich geweigert, das Deutsche Reich auf die Koalition mit dem Zentrum aufzubauen13. Bismarck sagte sich, daß zwar die west- und süddeutschen Katholiken genauso gute Deutsche waren wie die Protestanten. Aber während der Landwirt in Pommern und Ostpreußen mit allen seinen Interessen und Neigungen an das Hohenzollern-Kaisertum gebunden war, galt dasselbe vom oberbayerischen Bauern und vom christlichen Bergarbeiter des Ruhrgebiets nicht. Der Zentrumswähler war zwar seit dem Frieden zwischen Staat und Kirche ein völlig loyaler Untertan. Aber er konnte sich in einer schweren Krise deutscher Politik auch mit einer anderen Gestalt des Reiches abfinden, als es die von 1871 war. Deshalb war Bismarck zwar bereit, mit der Katholischen Kirche Frieden zu halten und mit dem Zentrum im Parlament zusammenzuarbeiten. Aber die Existenz des Deutschen Reiches und das Funktionieren seiner Einrichtungen durfte niemals vom Zentrum abhängig sein. Der Kaiser mußte in der Lage sein, auch in schwersten Krisen ohne und gegen das Zentrum zu regieren.
Auf der anderen Seite bedeutete das Regieren mit dem Block der Konservativen und des Zentrums die Ausschaltung des Bürgertums. Ohne die aktive Mitarbeit des gebildeten und besitzenden Bürgertums hielt Bismarck aber das Deutsche Reich für nicht haltbar. Wenn das Bürgertum oppositionell beiseite stand, war der König von Preußen, sobald es ernst wurde, zusammen mit dem Militäradel isoliert. Denn das Bündnis mit dem Zentrum zerbrach nach Bismarcks Überzeugung bei der ersten schweren Belastungsprobe. Die Reichsregierung mußte imstande sein, nötigenfalls übertriebene Ansprüche der Liberalen zurückzuweisen und ohne sie das Notwendige zu tun. Aber eine dauernde Abstoßung des bürgerlichen Liberalismus war für Bismarck undenkbar1.
Bismarcks Ziel war vielmehr, an Stelle der alten liberalen Parteien, in denen die Idee der parlamentarischen Regierung zu Hause war, eine neue bismarcktreue liberale Partei zu scharfen. Sie sollte die Interessen der Industrie vertreten, die Zoll- und Kolonialpolitik fördern und in allen Verfassungsfragen konservativ sein. Diese Umbildung gelang zu einem wesentlichen Teil: In den achtziger Jahren erfolgte die Neugründung der Nationalliberalen, die mit der Nationalliberalen Partei von 1871 kaum mehr als den Namen gemeinsam hatten.
Es blieb freilich ein oppositioneller Rest im Bürgertum: Die Kaufmannschaft, die an der Zollpolitik nicht interessiert war, und solche Männer, die prinzipiell den militärisch-aristokratischen Charakter des Deutschen Reiches ablehnten und die Tradition der Konfliktszeit hochhielten. Diese »Fortschrittspartei«, unter Führung Eugen Richters, war im Lager des liberalen Bürgertums ungefähr dasselbe wie die Stöckergruppe innerhalb der konservativen Gesellschaftskreise. Es waren dies die beiden Tendenzen, die der Bismarckschen Koalition entgegenarbeiteten. Die Stöckerleute wollten die Konservativen von dem Block mit den Liberalen wegführen, und Eugen Richter wollte das Bürgertum von der Unterwerfung unter die »Junker« befreien. In Stöcker wie in Eugen Richter erblickte Bismarck recht eigentlich die Tendenzen, die sein Werk von innen heraus störten. Der Haß, mit dem Bismarck die Kreuzzeitung-Konservativen verfolgte, war ungefähr ebenso erbittert wie seine Feindschaft gegen die Fortschrittler um Eugen Richter.
Es ist begreiflich, daß beide Gruppen der Gegner Bismarcks und seines konservativ-liberalen Kartells auf den dritten Faktor der deutschen Politik, auf das Zentrum, spekulierten. Bei den Konservativen war es die Idee des konservativ-klerikalen Blocks, die als Ersatz für das System Bismarcks vorgeschlagen wurde. Aber auch die liberale Opposition gewöhnte sich daran, im Reichstag mit dem Zentrum zusammen zu stimmen. In den achtziger Jahren konzentrierte sich im Reichstag die Opposition gegen Bismarck um die Namen Windthorst und Richter. Sollte es da nicht möglich sein, auch positiv eine Zusammenarbeit zwischen dem liberalen Bürgertum und der katholischen Partei herzustellen? Das Zentrum hatte doch im Kulturkampf den Druck des herrschenden Systems nur zu schwer gespürt. Konnte es sich nicht auch zum Parlamentarismus bekehren? War nicht auch in Deutschland ein Seitenstück zu dem Ministerium Gladstone14 möglich, das sich auf ein Bündnis der englischen Liberalen mit den katholischen Iren stützte?
Ein deutsches Ministerium Gladstone hätte auch in bestimmten, Bismarck feindlichen Hofkreisen eine Stütze gefunden. Denn die Gegner Bismarcks am Hof hatten teils liberale und teils klerikale Sympathien. Die Idee des deutschen Ministeriums Gladstone ist geschichtlich überaus interessant, denn hier finden wir die ersten Anfänge der Kombination, die dann später zur Mehrheit der Friedensresolution von 1917 und zur Weimarer Koalition von 1919 führte. Aber in den achtziger Jahren waren die Aussichten, aus der Oppositionsfront Windthorst-Richter-Sozialdemokratie ein neues deutsches Regierungssystem zu schaffen, ganz gering. Zwar war von 1881 bis 1886 eine Reichstagsmehrheit für die Opposition