Mann werden – Mann sein. Josef van Scharell
Erfahrung: Er kommt mit seiner Spiritualität in Berührung. »Gott ist an diesen Ort und ich wusste es nicht«, heißt es in Genesis 28,16. Ähnliches erfahren auch heute viele Männer nach einer Krise in ihrem Leben. Jetzt kommt der Glaube wieder in das Blickfeld ihres Suchens.
Doch nun machen sie eine Erfahrung mit Religion, mit Spiritualität, die anders ist als das, was sie bisher kannten: Sie selbst können mit Gott in Verbindung treten! Nicht mehr Institution oder Amt ist für ihren Glauben wichtig. Adam, der Mann, wird aus dem Paradies, dem Weiblich-Umsorgenden, in die Freiheit des Lebens entlassen. Ähnlich geht es Jakob. Doch hier, im »echten« Leben, trägt der erschlichene Segen des Vaters nicht mehr. Er muss neu erkämpft werden. Am Jabbok ringt Jakob mit Gott und sagt am Ende zu ihm: »Ich lasse dich nicht, wenn du mich nicht segnest!« (Genesis 32,27b). Jakobs Kampf endet mit Gottes Segen und einem neuen Namen: Jakob wird zu »Israel«, hier wird seine Berufung zum Vater der zwölf Stämme Israels grundgelegt. Dieser Segen ist eben kein erschlichener mehr, sondern aus der offenen Auseinandersetzung mit dem Vater erwachsen. Ihm wird hier zugesprochen, was auch er später seinen Söhnen zuspricht – die Wahrheit: »Du hast mit Gott und den Menschen gestritten« (Genesis 32,29).
Der neue Segen lässt ihn die Schritte ins Freie tun. Mit der Überquerung des Jabbok, der zum Grenzfluss wird, lässt Jakob seine Gefangenschaft, sein Verstricktsein in das Alte hinter sich. Auch wir heutigen Männer, Väter und Söhne, sind aufgerufen, die Mauern und Gefängnisse des Schweigens zum Einstürzen zu bringen. So haben die Söhne Zukunft und können wie Israel auf den Vater aufbauen. So kann der Weg Jakobs und sein großer Segen auch heute zu einem Urmodell für das Verhältnis der verschiedenen Generationen von Männern werden.
Übung für zu Hause
In den Männergruppen und den Kursen mit Männern beenden wir die gemeinsame Zeit in der Regel mit einem Segen, den wir uns gegenseitig geben. Wir stehen im Kreis, die rechte Hand entweder auf der Schulter unseres Nebenmanns oder auf seinem Rücken, und sagen ihm ein »Gutes Wort«.
Wenn du möchtest, kannst du das auch zu Hause einüben. Wenn du Kinder hast, könntest du dir einen Segen für sie überlegen, den du ihnen mit auf den Weg geben kannst – wenn sie morgens das Haus verlassen, zum ersten Mal allein unterwegs sind (ob im Urlaub oder auf dem Schulweg oder zu einem Freund, zu einer Party ...), eine Prüfung bevorsteht oder welche Ereignisse auch immer in dir das Bedürfnis dazu hervorrufen. Wenn du selbst gerne einen Segen spüren würdest, frag einen Mann in deinem Umfeld, dem du vertraust, vielleicht auch deinen »Ersatzvater« oder einen engen Freund, ob er dir ein »gutes Wort« sagen kann. Vielleicht freut er sich, wenn du ihm im Gegenzug ebenfalls ein solches zusprichst.
Haben wir als Männer wieder den Mut, wie im Relief der Kathedrale von Santiago de Compostela als Vater segnend hinter unseren Söhnen zu stehen!
Wo sind die Väter heute?
Wenn Männer in unserer Zeit nach ihrer Identität fragen und suchen, so ist die Vaterrolle sicher eine Antwort oder eine mögliche Identität. Schon seit einigen Jahren versuchen Männer, diese neu auszufüllen. Trotzdem ist Erziehung in Deutschland immer noch hauptsächlich Frauensache. Hinzu kommt, dass ein sehr großer Anteil der Alleinerziehenden Frauen sind. Im Jahr 2017 gab es in Deutschland rund 416.000 alleinerziehende Väter und rund 2.203.000 alleinerziehende Mütter. Langsam wird jedoch trotzdem ein Wandel in Bezug auf die Rolle des Vaters in der Erziehung deutlich. So hat schon 2010 das EuGH entschieden, dass beiden Eltern das Sorgerecht übertragen werden soll. Seit der Reform des Kindschaftsrechts 1998 ist zudem möglich, dass unverheiratete Eltern für ihre Kinder ein gemeinsames Sorgerecht haben. Zudem unterscheidet der Gesetzgeber nun nicht mehr zwischen ehelichen und unehelichen Kindern. Seit 2013 haben Väter noch einmal mehr Rechte. Sie können nun auch ohne die Zustimmung der Mutter die Mitsorge beim Familiengericht beantragen und erhalten sie, wenn dem Kindeswohl nichts entgegensteht.
Im »Väterreport« der Bundesregierung aus dem Jahr 2018 schreibt Dr. Franziska Giffey, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: »Vaterschaft verändert sich: Väter heute haben ein neues Selbstverständnis. Sie wollen sich aktiv und auch im Alltag um ihre Kinder kümmern. Gerade junge Paare wollen auch als Eltern gleichberechtigt leben. Tatsächlich erziehen und betreuen Väter ihre Kinder heute mehr als sie es von ihren eigenen Vätern kennen. Sie wünschen sich vielfach noch mehr Zeit für die Familie und wollen auch nach einer möglichen Trennung für ihre Kinder da sein. Ich will Väter weiter dabei unterstützen, sich Zeit für ihre Kinder zu nehmen, und partnerschaftliche Vereinbarkeit in Familie und Beruf stärken: mit der Schaffung überprüfbarer Standards zur Umsetzung einer familienfreundlichen Unternehmenskultur und mit der Entwicklung von Modellen, die mehr zeitlichen Spielraum für Familien schaffen.«
Eine Politik, die dafür Sorge trägt, dass die Väter mehr in den Blick kommen, ist ein großer Gewinn für die Gesellschaft und für das Miteinander von Frauen und Männern. In der Erziehung von Kindern wird heute häufig von einer partnerschaftlichen Elternrolle gesprochen. Väter sind heute zunehmend aktiv in der Fürsorgerolle, was bisher häufig den Müttern vorbehalten war. Sie sehen ihre Aufgabe nicht mehr nur darin, der »Ernährer« der Familie zu sein. Das ist sicher gut, aber gleichzeitigt verändert sich die Rolle des Mannes, der diese Aufgabe über einen sehr langen Zeitraum in unserer Kultur übernommen hat. In einer Untersuchung der BBC stellte man fest, dass sich Männer, deren Partnerin schwanger war, in Mehrarbeit stürzten. Das war jedoch keine Flucht der Männer vor der Schwangerschaft, sondern es ging ihnen darum, eine bessere wirtschaftlich Grundlage zu schaffen. Oder, archaisch gesprochen: Es muss ein Mammut mehr gejagt werden, da es demnächst einen Esser mehr gibt. Nach Jared Diamond, einem amerikanischen Evolutionsbiologen, ist der moderne Mensch noch sehr stark geprägt von der vorzivilisierten Zeit. Also von der Art zu leben, wie sie über tausende von Jahren üblich war. In seinem Buch »Vermächtnis« stellt er fest, dass Väter in allen untersuchten Gesellschaften weniger in die Versorgung der Säuglinge eingebunden sind als Mütter. Allerdings spielten die Väter in den meisten menschlichen Gesellschaften eine bedeutende Rolle für Nahrungsbeschaffung, für den Schutz der Familie und die Erziehung der Kinder. Und: Je nachdem, wie sehr auch die Frau in die Nahrungsbeschaffung involviert war, kümmerten sich die Väter eben mehr oder weniger um die Versorgung der Kinder.
Nach dem »Väterreport« der Bundesregierung 2018 sagen etwa 70 Prozent aller Väter, dass sich ihre Rolle in der Erziehung der Kinder im Vergleich zu ihrer Kindheit zum Positiven verändert hat. Das ist natürlich sehr erfreulich und zeigt auch, dass Frauen stärker in die ökonomische Entwicklung der Familie eingebunden sind, sodass die Väter mehr Zeit haben, sich um die Versorgung und Erziehung der Kinder zu kümmern. Wichtig ist aber auch zu schauen, wie Vatersein heute gelebt werden kann und was wir Männer unseren Kindern, im Besonderen unseren Söhnen, mit auf den Weg geben.
Die Situation des Mannes in der modernen Gesellschaft ist äußerst prekär. In ihrem Buch »Das Ende der Männer und der Aufstieg der Frauen«, das auch in Deutschland ein Bestseller war, analysiert Hanna Rosin den epochalen Niedergang amerikanischer Männlichkeit. Männer sind heute in vielfacher Hinsicht die Verlierer, gerade auch im Niedergang der Industriegesellschaften. In Amerika sind immer mehr Frauen die Haupternährerinnen der Familien: Während der großen Rezession ab dem Jahr 2007 waren in den Vereinigten Staaten drei Viertel der 7,5 Millionen Entlassenen Männer. Im Jahr 2009 gab es dort zum ersten Mal mehr erwerbstätige Frauen als Männer. Auch in Deutschland ist dieser drastische Rollenwechsel zu bemerken: »Überall, wo ich hinkam, passten sich Paare an die neue häusliche Realität an: Die Frau zahlt die Hypothek ab. Die Frau fährt jeden Tag zur Arbeit und gibt dem Mann vorher noch schnell Anweisungen, wie er die Wäsche machen muss«, so Hanna Rosin in ihrem oben erwähnten Buch.
In meiner Zeit als Jugendhausleiter in unserem Kloster saß ich an einem Sommerabend mit den Zivildienstleistenden und Jugendlichen um einen Tisch. Es war ein lockeres und harmloses Miteinander in angenehm warmer Sommerluft. Irgendwann sagte ich in die Runde: »Ich denke, dass es so langsam Zeit wird, dass ich die Leitung des Jugendhauses abgebe. Ich komme ja langsam schon in das Alter eurer Väter!« Die Stimmung bei einem der Zivildienstleistenden veränderte sich und er sagte sehr ernst und nachdenklich zu mir: »Und glaubst du nicht, dass wir Väter brauchen?« Dieser Satz hat mich zum Nachdenken gebracht. Ich fragte mich, wie ich als Mönch, der ja ehelos lebt, mein Vatersein ausleben könnte. Eigentlich