Das Unmögliche ist etwas weiter oben. Jacopo Larcher

Das Unmögliche ist etwas weiter oben - Jacopo Larcher


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genau darüber nachdenkt: Denn ich war verschnürt wie ein Paket und wurde vom Trainer buchstäblich nach oben gehievt, und dennoch …

      Am Ende der Stunde war ich glücklich: Ich hatte gefunden, wonach ich gesucht hatte. Es war, wie wenn man sehr lange von etwas geträumt oder auf etwas gewartet hat, und es dann, wenn man es endlich bekommt, genau so ist, wie man es sich vorgestellt hatte. Das passiert nicht so oft, oder? Doch, wenn es geschieht, hat es etwas Magisches. Genau.

      Von jenem Nachmittag an wurde das Klettern Teil meines Lebens. Nachdem der Kurs beendet war, meldete ich mich sofort für den Folgekurs an. Inzwischen ging auch mein Vater dorthin, sodass ich weitere zwei- bis dreimal pro Woche in die Kletterhalle kam, bis ich mich irgendwann für zwei am selben Wochentag stattfindende Kurse anmeldete: Auch wenn man immer wieder dieselben Dinge tat, war es für mich eine Möglichkeit, mehr Zeit mit dem Klettern zu verbringen, das Einzige, was mich inzwischen noch interessierte. Warum? Keine Ahnung. In keiner anderen Sportart habe ich dieses Gefühl von Freiheit, Harmonie und selbst gestellter Herausforderung gefunden, dieses Zum-Gipfel-gelangen-Müssen, bei dem man dem eigenen Instinkt und der eigenen Vorstellungskraft folgt und sich dabei nur auf die eigenen Kräfte verlässt …

      Es waren Gefühle, die ich noch nie erlebt hatte, es war für mich so unmittelbar und natürlich, dass ich die Gründe für dieses „Verliebtsein“ nie so genau erforscht habe. Aber ich weiß noch, dass, sobald ich mich in der Wand festhielt, die Welt um mich herum versank.

      Nicht, dass ich die Einsamkeit gesucht hätte (schon gar nicht in dieser chaotischen, vollkommen überfüllten Kletterhalle), doch nach einer Art Seifenblase schon: Das Klettern schirmte mich vom Rest der Welt ab.

      Ich war sehr schüchtern – und das bin ich immer noch ein bisschen. Ich war als Kind immer introvertiert gewesen und mochte es noch nie, Beziehungen mit zu vielen Menschen zu haben. Vor allem habe ich es immer schon gehasst, meine Handlungen vor anderen rechtfertigen zu müssen. Vielleicht habe ich mich deswegen immer von Mannschaftssportarten ferngehalten – von einer kurzen Fußballphase einmal abgesehen (was für mich allerdings weniger ein Spiel als vielmehr ein Albtraum war, doch offenbar stellt es in unserer Gesellschaft eine unvermeidliche Station im Leben dar …).

      Kurz gesagt, es fiel mir schwer, mich mit anderen Kindern auseinanderzusetzen. Es war keine Angst, sondern eher das Gefühl, Abstand zu brauchen: Ich verbrachte gerne viel Zeit allein. Und in der Wand in der Kletterhalle musste ich mit niemandem in Beziehung treten. Sagen wir es einmal so: Anfangs war das Klettern eine Fluchtmöglichkeit für mich. Langfristig, glaube ich, hat es mir jedoch sogar dabei geholfen, meine Schüchternheit zu überwinden: Durch das Klettern bin ich auf Reisen gegangen, habe neue Orte und Leute kennengelernt, Projekte geplant und bin für die Welt und für andere offen geworden; dadurch musste ich sogar in der Öffentlichkeit sprechen – was anfangs ein Schock für mich war.

      Damals als kleiner Junge war mir natürlich nicht bewusst, inwiefern das, was ich tat, mein Leben beeinflussen würde. Ich hatte weder Ambitionen noch Erwartungen, ich wollte einfach nur Spaß haben.

      Die Kletterhalle in Bozen war schlecht beleuchtet. Die Lampen, Gerüche und Geräusche … daran erinnere ich mich noch ganz genau, obwohl ich schon seit zehn Jahren nicht mehr dort gewesen bin. Diese Orte sahen damals typischerweise ganz anders aus als die glitzernden, sauberen Kletterhallen von heute. Früher waren das enge, nach Gummi, Beton und Fels stinkende Räume (und auch nach Schweiß und Schimmel, seien wir ehrlich), die mit dem Ziel entstanden waren, dass man dort trainieren konnte, um dann hinauszugehen und draußen die Früchte des Trainings anzuwenden. Auch aus diesem Grund achtete man nicht so sehr auf die Ästhetik.

      Ein Teil der Halle bestand aus Dolomia-Steinen, die Bergsteiger vom Sellapass hierhergebracht hatten (zumindest hat man es mir so erzählt, wer weiß, ob es wahr ist; die Vorstellung hat jedoch etwas). Dann gab es dort eine glatte Betonwand, in der diejenigen trainierten, die „technisch“ kletterten, und darüber hatte man eine Kletterwand aus Holz gebaut. Auf einen Blick konnte man die gesamte Entwicklung dieser Disziplin sehen (erinnern wir uns daran, dass die Bozener Kletterhalle die erste ihrer Art in Italien war). Doch wer durch die Metalltür trat, hatte eher den Eindruck, eine alte Fabrikhalle zu betreten: Obwohl die Kletterhalle klein war, konnte man nicht bis ganz hinten sehen, so viel Staub war in der Luft. Es war bestimmt kein besonders gesundes Ambiente, doch ich war damals so auf mein Ziel fokussiert, dass ich das gar nicht wahrnahm, umso weniger, weil alles, was mich umgab, „verschwand“, sobald ich zu klettern begann. Als ich Jahre später wieder dorthin kam, habe ich mich gefragt, wie ich dort drinnen Hunderte von Stunden verbringen konnte, indem ich an dieser winzigen Wand ohne Pause Runde um Runde drehte.

      In diesen meinen ersten Jahren, während der Mittelschule bis zum Beginn der weiterführenden Schule, gingen wahrscheinlich nur ein paar meiner Altersgenossen klettern. Die meisten von ihnen hatten keinerlei Vorstellung davon, was ich wirklich machte, sie stellten sich mich wahrscheinlich mit Eispickel oder Handschuhen vor. Und wie es so oft geschieht: Das, was man nicht kennt oder nicht versteht, wird verlacht, man distanziert sich davon (nur selten ist das Andersartige beliebt). Sicher, wenn ich Fußball gespielt hätte, wäre es einfacher gewesen … Vielleicht ist „verlacht“ nicht das richtige Wort: Sagen wir, dass ich nicht besonders ernst genommen wurde. Das Lustige ist, dass in letzter Zeit viele meiner ehemaligen Klassenkameraden mit dem Klettern angefangen haben, da es heute in Mode ist. Heute sind sie also in der Wand – und wer weiß, ob sie sich noch an diese Zeit erinnern.

      Ich war so unermüdlich und begeistert, dass mir irgendwann der Leiter der Kletterhalle ganz heimlich die Schlüssel gab: Nun konnte ich kommen und gehen, wann und wie ich wollte.

      Wie wahrscheinlich deutlich geworden ist, hatte ich anfangs kein genaues Ziel vor Augen, außer so viel wie möglich zu klettern, da es das war, was mich glücklich machte. Schon nach einem Jahr blieb ich oft jeden Nachmittag fünf oder sechs Stunden in der Kletterhalle unter dem Gelächter von denjenigen, die mich fragten: „Bist du immer noch hier? Bist du nicht müde? Hast du keine Hausaufgaben auf?“ Zugegebenermaßen, doch, ich war todmüde und zu Hause warteten die Hausaufgaben auf mich, aber … ich konnte nicht aufhören!

      Dann kam mit der Zeit in mir der Wunsch auf, besser zu werden und mehr Kraft zu entwickeln. Ich verschlang Kletterfilme, blätterte Fachzeitschriften durch und irgendwann hatte ich sogar meine eigenen Vorbilder, wie Peter Mair, den starken und immer lächelnden Bergführer aus dem Pustertal, der ab und zu in der Kletterhalle vorbeikam und mich seine Routen versuchen ließ … All das spornte mich an und ließ mich davon träumen, auch eines Tages diese Dinge vollbringen zu können. Ich hatte also ein Ziel! Gut, dachte ich: Nachdem das Ziel fixiert war, war der einfachste Weg, es zu erreichen, sich an die Geräte zu hängen, also: zu trainieren! Doch wie? Was wusste ich mit elf, zwölf Jahren schon davon, wie man trainiert? Da ich nicht viele Personen kannte, die ich fragen konnte (oder vielmehr: da ich es nach meiner eigenen Vorstellung machen wollte), beschloss ich, dass die beste Art des Trainings darin bestand, mich anzustrengen und noch mehr anzustrengen. Je mehr mich etwas erschöpfte, desto mehr Nutzen würde es mir bringen. Oder?

      ”Wenn ich total erschöpft bin, fühle ich mich im Einklang mit mir selbst, ich habe den Eindruck, meinen Beitrag zur Verwirklichung einer Sache geleistet zu haben, die mir Freude bereitet.

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      2Das Training

      Nein. Es funktioniert nicht ganz so. Aber so dachte ich damals. Und organisierte mich entsprechend.

      Während ich mich im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren darauf „beschränkte“, ohne Verschnaufpause zu klettern, indem ich jeden nur möglichen Moment dafür nutzte, so widmete ich mich in den folgenden drei, vier Jahren mit derselben Unersättlichkeit dem Do-it-yourself-Training: ohne irgendwelche Grundkenntnisse darin zu haben, ohne Regeln oder Kriterien zu befolgen – außer der Überzeugung, dass ich immer etwas tun musste und immer noch mehr, dass ich mich erschöpfen, die größte Anzahl von Routen und Moves unter immer schwieriger werdenden Bedingungen und mit so wenig Pausen wie möglich versuchen musste.

      Das war meine naive Phase, in der ich mir alles Mögliche einfallen ließ und


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