Alte Bräuche neu erleben. Waltraud Ferrari

Alte Bräuche neu erleben - Waltraud Ferrari


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durch das Handeln im Brauch aus dem Alltag löst, sich selbst auf neue Weise erfährt und aus diesen Momenten eine Kraft schöpft, die ihn seelisch nährt.

      Als Ergänzung zu diesen persönlichen Erfahrungen wurden Fachliteratur, aber auch Sagen, Mythen und Märchen herangezogen. Begegnungen mit Volkskundlern sowie Historikern und Archäologen lieferten überdies wertvolle Hinweise. So gelang es mir, in die Welt des Brauchtums einzutauchen und mir seine Sprache Schritt für Schritt zu erschließen. Bei meinen Reisen lebte ich mit Rucksack, Zelt und Schlafsack ausgerüstet oft tage- oder wochenlang unter freiem Himmel, Sommer wie Winter. Auf diese Weise konnte ich der Denk- und Empfindungswelt früherer Generationen nachspüren. Dabei wurden mir allmählich auch jene Kräfte vertraut, die hinter den verschiedenen Formen des Brauchtums am Wirken sind. Sie haben nichts von ihrer Macht oder Gültigkeit verloren, allerdings hat der moderne Mensch sie beinahe vergessen.

      Dieses Buch stellt den Versuch einer großen Zusammenschau dar und soll dazu einladen, sich einer Geisteswelt zuzuwenden, deren Ursprünge zwar weit in der Zeit zurückreichen, die aber noch immer wertvolle Botschaften für uns bereithält und heute wieder an Aktualität gewinnt.

       Welchen Sinn kann Brauchtum heute erfüllen?

      Derzeit leben wir in einer Gesellschaft, die weitgehend vom synthetischen Weltbild des urbanen Menschen bestimmt wird, das sich im Rahmen einer global vernetzten Welt überall verbreitet. So soll alles jederzeit und überall verfügbar sein, unabhängig von Entfernung oder Jahreszeit. Man fährt im Winter in die Südsee, um dann im Frühling zum Gletscherskifahren zu gehen. Auch wenn die Flucht vor winterlicher Kälte verständlich ist, geht möglicherweise die Empfindung für die Abläufe von Werden und Vergehen verloren, und damit einhergehend das Gefühl für die Jahreszeiten mit ihrem eigenen Licht und der für sie typischen Qualität. Die Natur dient vielen nur noch als eine Art Erlebnispark, in welchem man sich den gewünschten Kick holt, ohne die Umgebung wirklich wahrzunehmen.

      Betritt man an einem beliebigen Ort auf der Welt ein Einkaufszentrum, trifft man überall auf die gleichen Läden und Marken, auf die gleichen Ideen und Idealvorstellungen, auf eine Art globale Gleichschaltung, vor deren Hintergrund Individualität und kulturelle Identität verloren zu gehen drohen. Andererseits erkennen immer mehr Menschen, welche Auswirkungen ein solcher Lebensstil auf unser gesamtes Ökosystem hat. Darüber hinaus zeigt sich verstärkt der Wunsch nach Entschleunigung und menschlichem Zusammenhalt. Durch die modernen Social Media entstehen zwar oft rasch neue Gemeinschaften, der Kontakt bleibt jedoch an der Oberfläche, und vieles löst sich ebenso schnell wieder auf, wie es entstanden ist.

      Brauchtum, das sich naturgemäß hauptsächlich auf dem Land finden lässt, wirkt schon aufgrund der dortigen Lebensumstände gemeinschaftsstiftend, und zwar im doppelten Sinne. Einerseits spiegelt es die (Schicksals)Gemeinschaft wider, die zwischen dem Menschen, der ihn umgebenden Landschaft sowie den heimischen Pflanzen und Tieren gegeben ist. Andererseits zeigt es die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen untereinander, denn im bäuerlichen Leben sind die Sorgen und Aufgaben seit Jahrtausenden dieselben geblieben: Witterung, Aussaat, Ernte, Hilfe bei größeren Arbeiten oder Naturkatastrophen und Ähnliches mehr.

      Die Befassung mit dem überlieferten Wissen des Brauchtums muss keineswegs einen Rückschritt bedeuten, denn nicht alles Althergebrachte ist zwangsläufig überholt. Besinnt man sich auf die eigene kulturelle Identität, kann ein anderes Bewusstsein in Bezug auf das Land beziehungsweise die Landschaft, in der man lebt, entstehen. Eine Erinnerung daran, dass das Leben tatsächlich von all dem abhängt, von dem man umgeben ist. So kommt auch der Begriff Heimat ins Spiel, ein Wort, das heute als unmodern gilt oder aufgrund leidvoller Erfahrungen in der Geschichte gerne gemieden wird. Gerade deshalb möchte ich diesen Begriff entstauben und enttabuisieren.

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       Fest beim Sunnwendrachen, Graden in der Weststeiermark

      Die früher im Schulunterricht übliche Heimatkunde befasste sich mit allen physischen und metaphysischen Aspekten eines Umfeldes, in das ein Mensch geboren wird: einerseits mit Geografie und Geschichte des entsprechenden Landstrichs sowie der wirtschaftlichen Lebensgrundlage, andererseits mit der vorherrschenden Kultur, also mit Kunst und Handwerk, der heimischen Musik und Literatur sowie den Erzählformen in Sagen, Mythen und Märchen, die nicht zuletzt religiös-spirituelle Inhalte schildern. Dieser intime Bezug zur eigenen Umgebung fehlt heute weitgehend. Eine Symbiose zwischen Mensch und regionaler Landschaft wird erst in jüngster Zeit wieder als wertvoll erkannt, zum Beispiel um Arbeitsplätze vor Ort zu sichern oder aus ökologischen Gründen, um überlange Transportwege für Nahrungsmittel zu vermeiden.

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       Tanz beim Feistritzer Kufenstechen

      Natürlich ist „Heimat“ für jeden Menschen individuell definiert und die in der Folge angeführten Betrachtungen sollen dazu anregen, sich vielleicht selbst mit diesem Begriff auseinanderzusetzen.

      Heimat kann eine Landschaft sein, mit dem für sie typischen Licht, dem Sonnenuntergang, wie es ihn sonst nirgendwo gibt, der jeweiligen Pflanzen- und Tierwelt, den Speisen, die der Boden hervorbringt, dem speziellen Dialekt – also dem sprachlichen Klangbild, das nur in dieser Gegend so entsteht.

      Heimat kann eine Stadt sein, mit der für sie einzigartigen Atmosphäre, den Begabungen und Tätigkeiten, die sie speziell fördert, mit der Alchemie verschiedenster Menschen.

      Nicht zuletzt kann Heimat eine Gemeinschaft von Menschen sein, die nach demselben Kalender leben, die gleichen Bräuche pflegen und dadurch ein gemeinsames Weltbild teilen. Die meisten von uns folgen ganz selbstverständlich einem solchen Kalender, in dem Feste wie Weihnachten, Neujahr oder Ostern fixe Bestandteile sind.

      Bewusst gefeierte Feste, bewusst begangene Bräuche im Jahreslauf bieten eine Möglichkeit, sich wieder den Rhythmen der Natur anzunähern und mehr Ruhe zu finden in einer Welt, deren überschnelle Abläufe nicht mehr lebensfreundlich sind. Vielleicht überprüft man dadurch einmal die eigenen Ansprüche und entdeckt sogar eine entspannte neue Bescheidenheit, da man zum Wesentlichen zurückfindet, sich vom Haben löst und sich leichter an das Sein erinnert. Auf diesem Weg könnten sich sogar Antworten auf einige Fragen finden, die sich bei der Bewältigung des Alltags immer wieder stellen.

       Der Kalender

      Das Wort Kalender leitet sich vom lateinischen calendarium ab und bedeutet so viel wie „Zeitweiser durch das Jahr“.

      Die Einflüsse unterschiedlichster Völker und Kulturen bilden sich bis heute im Brauchtum und dem damit zusammenhängenden Kalender ab. Die Wurzeln einiger Bräuche sind manchmal in einer bestimmten Epoche erkennbar, aber häufig kann die Urheberschaft nicht punktgenau zugeordnet werden. Viele mythische Figuren (zum Beispiel Gottheiten, die später zu Heiligengestalten wurden) lassen sich weit zurückverfolgen und haben durch die Jahrtausende hindurch einen Grundcharakter bewahrt, der durch die jeweilige kulturelle, politische oder religiöse Entwicklung eingefärbt oder überlagert wurde. Der Kalender, auf den ich mich in diesem Buch beziehe, ist den meisten durch christliche Feste vertraut, geht aber in seiner Grundstruktur in vielen Bereichen auf vorchristliche, oft keltische oder kelto-germanische Überlieferungen zurück. Zahlreiche Bräuche lassen sich erst vor diesem Hintergrund deuten. Im Lauf der Zeit sind immer wieder neue Elemente hinzugefügt worden, etwa durch römischen Einfluss, am bedeutendsten war zuletzt die Christianisierung. Der Einfachheit halber wird für die vorchristlichen Elemente im folgenden Text die umfassende Bezeichnung alteuropäische Überlieferung verwendet.

      In diesem Zusammenhang eine kurze Erläuterung zu Kelten und Germanen: Sowohl der Begriff Kelten als auch Germanen wird heute manchmal noch fälschlicherweise als Bezeichnung für jeweils „ein“ Volk verwendet, das es aber als einheitliches Volk so nie gegeben hat. In beiden Fällen handelte es sich um ein


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