Drachentochter. Liz Flanagan

Drachentochter - Liz Flanagan


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wurde. Sie hätte es verhindern können. Warum hatte sie nicht gehandelt, als sie die Gelegenheit dazu hatte? Stattdessen hatte sie sich wie eine Maus versteckt. Und jetzt war ein Mann tot.

      Milla öffnete die Augen und atmete bebend ein.

      »Er wusste es«, sagte Nestan wie zu sich selbst.

      Milla beobachtete ihn durch eine Lücke im Blattwerk.

      Er starrte auf die größer werdende tiefrote Pfütze vor seinen Füßen und drehte mit der Linken unentwegt eine Münze zwischen Fingern und Daumen. »Er wusste, dass ich kommen würde, wenn er mir diese Münze schickt. Jetzt werden wir nie erfahren, welche Nachricht es wert war, dafür zu sterben.«

      »Er … er … er kannte das Passwort«, stotterte Lanys. »Deshalb … deshalb habe ich das Tor geöffnet.« Ihr rotbraunes Haar leuchtete in der Sonne, als sie auf die Knie sank, und ihre Hände flatterten wie auffliegende Tauben. »Ich weiß nicht, wie der maskierte Mann hereingekommen ist …«, flüsterte sie. »Es tut mir leid.«

      »Ja, das ist das eigentliche Rätsel. Der Mörder wusste genau, wann meine Wachen heute Pause machen. Ich frage mich …« Nestan verstummte.

      Milla war eine treue Dienerin: Sie sollte ihrem Herrn erzählen, was der Fremde im Baum versteckt hatte. Etwas, das so wertvoll war, um dafür zu töten. Etwas, das wertvoll genug war, um dafür zu sterben. Aber ihr fehlten ausnahmsweise die Worte. Ihr Mund war wie ausgetrocknet, in ihrer Kehle stieg es sauer auf, ihr Magen rumorte. Sie saß zitternd auf ihrem Ast und klammerte sich fest.

      Einer der Wachmänner, die die Verfolgung aufgenommen hatten, kam in den Hof zurückgeeilt. »Wir haben ihn verloren, Herr. Es ist zwecklos zwischen all den Leuten.«

      Wie klug der Mörder war! Heute fand der Jubiläumsball des Herzogs statt: Auf den Straßen der Stadt wimmelte es von Feiernden in festlicher Kleidung, und alle waren maskiert. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, den Mann wiederzufinden, begriff Milla.

      Nestan unterbrach seine Grübeleien. »Macht das hier weg, bevor es die Zwillinge zu sehen bekommen«, sagte er mit einem Fingerschnipsen zu Lanys und dem Wachmann. »Und verdoppelt die Wachen am Tor.« Während er hinkend davonging, rief er: »Wo stecken meine Kinder überhaupt? Isak? Hat irgendjemand Tarya gesehen?«

      Lanys stand auf und stolperte ihrem Herrn hinterdrein, beide verschwanden im kühlen Inneren des Hauses. Der Wachmann bückte sich, hob die Leiche des verhüllten Mannes an und schleifte ihn fort, nur eine leuchtend rote Spur auf den Steinplatten blieb zurück.

      Wie konnte der Ball des Herzogs wichtiger sein als das Leben eines Mannes, das vor ihren Augen ausgelöscht worden war?, fragte Milla sich benommen.

      Die merkwürdige Packtasche hing schimmernd am Ast. Sie rief nach ihr wie ein süßes, verlockendes Lied. Zitternd streckte Milla einen Finger aus und berührte die Seide. Solange das ganze Haus in Aufruhr war, würde sie die Tasche lassen, wo sie war: Lanys würde sie ihr doch nur auf der Stelle wegnehmen.

      »Ich komme später zurück«, sagte sie und sprang vom Baum. Ihre Knie gaben nach, sie taumelte, fing sich wieder und blinzelte die Sterne fort, die vor ihren Augen tanzten.

      Einen Augenblick lang starrte sie auf das Blut und machte sich bewusst, dass das hier real war. Es war wirklich geschehen. Und sie fragte sich, ob jemand diesen Toten vermissen würde. Wieder wurde Milla übel. Wie beengend ihr Leben doch war! Ihre Pflichten zogen sich wie eine Schlinge um sie zusammen.

      Sie tat das Einzige, was in ihrer Macht stand: »Es tut mir leid«, wisperte sie dem Blut des Mannes zu. »Ich passe auf deine Tasche auf, das verspreche ich dir.«

      Dann lief sie los, um die Zwillinge daran zu erinnern, dass sie sich beeilen mussten.

      2. Kapitel

      Ein Blick nach Westen zeigte Milla, dass ihr nicht viel Zeit blieb. Die untergehende Sonne stahl dem Meer die Farbe, bis es blassblau war wie ein Starenei.

      Wenn die Zwillinge zum Ball des Herzogs zu spät kamen … Wenn Nestan glaubte, dass alles ihre Schuld wäre … Milla rannte, obwohl ihr immer noch die Beine zitterten. Sie sauste über den polierten Boden von Nestans Lieblingsraum, mit den nach Südwesten ausgerichteten riesigen Bogenfenstern, durch die der Herr auf seine Schiffe und Lagerhäuser hinabblicken konnte.

      Lanys war mit einem großen Wasserkrug und einer Hand voll Lumpen auf dem Weg nach draußen. Ihr Gesicht, so weiß wie geronnene Milch, spiegelte Millas eigenen Schrecken.

      »Wo hast du denn gesteckt?«, fauchte Lanys giftiger als sonst. »Die Zwillinge müssen sich fertig machen, aber ich habe für den Herrn etwas Dringendes zu erledigen, also musst du dich darum kümmern. Warum hat er dich noch mal hier angestellt?« Selbst inmitten des Grauens brachte Lanys es fertig, ihr eins auszuwischen.

      »Ich suche die Zwillinge ja schon!« Milla war es gewohnt, ihre Gemeinheiten zu ignorieren. Es drehte sich ihr fast der Magen um, als sie begriff, welchen Auftrag Lanys erledigen musste. »Hast du sie gesehen?«

      »Tja, ich dachte, Isak wäre auf dem Übungsplatz.« Lanys legte den Kopf schief und lauschte. »Aber mit wem schimpft der Herr dann oben …?«

      Milla wartete nicht länger. Sie sprang, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf und folgte den lauten Stimmen. Vor Isaks Zimmer presste sie sich an die Wand und spähte durch die offene Tür.

      »Und das sagst du mir jetzt?« Isaks Stimme war kaum wiederzuerkennen. Sie klang heiser vor zurückgehaltenen Tränen. »Du kannst doch nicht einfach …«

      Milla hörte, wie er ein Schluchzen unterdrückte. Weinte er wegen des toten Mannes? Sie schob sich näher heran.

      Steif und leicht zusammengekrümmt stand Isak mit dem Rücken zu seinem Vater am Fenster. Sein Atem ging seit seiner Krankheit im letzten Jahr immer noch keuchend und seine Augengläser waren verrutscht. Er nahm sie ab: Zwei kleine runde Glasscheiben, die mit einem Draht verbunden waren, der auf die Nase gesetzt wurde. Nestan hatte die ungewöhnliche Konstruktion von einer langen Reise mitgebracht und Isak trug sie die ganze Zeit. Jetzt leerte er eine kleine Glasphiole mit seiner Arznei, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und setzte seine Gläser wieder auf.

      Während Millas Herz immer noch Purzelbäume schlug, entschied sie, das zu tun, was sie am besten konnte: zuhören.

      »Besser?« Nestan musterte seinen Sohn Isaks angestrengte Atmung beruhigte sich allmählich. »Ich habe es dir gesagt, sobald alles eingefädelt war. Und ja, ich kann. Genau das ist der springende Punkt.« Nestan wurde lauter. Er streckte die Hand aus, als wollte er Isak am Arm packen. Überlegte es sich dann aber anders und rieb sich stattdessen über den Bart. Es klang wie ein Kratzen.

      Milla wurde selbst im schwülwarmen Korridor plötzlich kalt, sie schlang die Arme um den Leib. Was hatte er arrangiert? Es musste sehr wichtig sein, wenn selbst Nestan, der mit distanzierter Ruhe eine Leiche betrachten konnte, aufgewühlt wirkte. Millas Gedanken wanderten zurück zu dem ermordeten Mann und seiner geheimnisvollen Packtasche. Sie stellte sich vor, wie die Tasche dort hing und auf sie wartete. Dann schob sie den Gedanken beiseite und lauschte dem Ende von Nestans nächstem Satz.

      »… ich will euch geben, was ich nicht hatte. Was ich mir erarbeiten musste. Warum begreifst du das nicht?«

      »Vielleicht, weil ich nicht du bin?«, sagte Isak keuchend. »Weil ich etwas anderes will? Und das wüsstest du auch, wenn du dir die Mühe machen würdest, mit mir zu reden.«

      Milla zuckte zusammen, doch es stimmte. Nestan war entweder auf Reisen oder sehr beschäftigt, er suchte nur selten die Gesellschaft seiner Zwillinge. Deren Mutter Vianna war vor zehn Jahren gestorben. Seitdem hatten die beiden mehr Freiheiten genossen als andere Kaufmannskinder, bis Nestan das schließlich aufgefallen war und er andere Saiten aufzog. Er hatte ihnen einen Unterrichtsplan aufgebrummt, den beide hassten.

      »Womit


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