Drachentochter. Liz Flanagan

Drachentochter - Liz Flanagan


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von Arcosi, die die Stadt mit einem Netz aus geheimen Schmugglerwegen und versteckten Durchgängen überzogen hatten.

      »Hier entlang!« Milla packte Taryas Arm und zerrte sie rückwärts in den Spalt, in dem eine winzige Gasse im Zickzack zu einer steilen steinernen Treppe führte, die man zwischen die Häuser gequetscht hatte. »Wenn wir uns beeilen, können wir der Patrouille ein Schnippchen schlagen und sie auf dem Rückweg umgehen.« Ihre Schritte dröhnten auf den ausgetretenen Stufen und sie erreichten taumelnd den Hafen.

      »Da ist er!« Tarya legte noch einen Schritt zu und überholte Milla.

      Wie vermutet lehnte Isak an der Hafenbrüstung und ließ den Neuankömmling nicht aus den Augen, der vor ihm vertäut war: ein schlanker Schoner mit zwei Masten, auf dem die Entladearbeiten noch in vollem Gange waren. Möwen schrien und zankten sich um einen ausgekippten Zuber mit Fischabfällen von den Marktständen, die sich im oberen Bereich der Kaianlage entlangzogen.

      »Isak, was soll das werden?« Tarya verschwendete keine Zeit mit einer Begrüßung. Als er keine Antwort gab, verwandelte sich ihr Ärger in Sorge. »He, was ist los? Ist alles in Ordnung?«

      Isak drehte sich um und musterte seine Schwester von oben bis unten. Die untergehende Sonne spiegelte sich in seinen Augengläsern. »Als was bist du denn verkleidet? Als Kampf-Vogelscheuche? Damit wirst du auf dem Ball des Herzogs ganz sicher alle Aufmerksamkeit auf dich lenken.«

      Dutzende Boote lagen hinter Isak in den schützenden Armen der Hafenmauer: die Flotte der Fischer von Arcosi und die höher aufragenden Kaufmannsschiffe. Als Milla über den rechten Arm der Hafenmauer blickte, versank ein letzter heller Sonnenstrahl ebenso schnell im Meer wie eine Münze in einer Tasche. »Die Sonne geht unter. Beeilt euch!«

      »Dann hast du es also nicht einfach nur vergessen?«, stellte Tarya fest, die mit beiden Händen ihre Locken durchkämmte und trockene Blätter und Stängel herausschüttelte. »Ich habe nämlich nicht zum Spaß den ganzen Monat damit zugebracht, Tänze zu üben, und dir dabei geholfen, diesen Eid auswendig zu lernen. Und jetzt beeil dich, oder wir kommen zu spät und müssen den Rest unseres kläglichen Lebens bedauern, dass wir den Herzog beleidigt haben.«

      »Seit wann ist dir das so wichtig?«, keilte Isak aus. »Was hast du davon? Ich wüsste nicht, dass du dich in letzter Zeit an irgendwelche Regeln gehalten hättest, außer du hattest Lust dazu …«

      »Hört auf! Was ist los mit euch?« Milla stellte sich zwischen die Zwillinge. So etwas machten sie sonst nie. Sie traten füreinander ein. Immer. Milla wollte ihnen so gern erzählen, was sie gesehen hatte, aber die beiden waren zu erregt und die Zeit lief ihnen davon. »Seht nur! Die Sonne geht unter. Für so etwas bleibt uns keine Zeit!«

      »Ich komme ja«, sagte Isak. »Gut gemacht, ihr kleinen Ziegenhirtinnen …«

      Das saß. »Wir hätten es auch lassen können.«

      »Tut mir leid«, murmelte Isak, ohne sie anzusehen.

      Tarya nahm Isaks Hand. »Bleib einfach dicht hinter mir.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zurück zur Schmugglertreppe. »Eine Patrouille ist unterwegs hierher, der sollten wir besser nicht in die Arme laufen.«

      Als Milla ihnen nacheilte und das Schiff passierte, das gerade angelegt hatte, blieb sie noch einmal stehen. Sie packte einen der Jungen, die Kisten ausluden, am Ärmel: »He, habt ihr einen Passagier mitgebracht?«, fragte sie leise. »Einen alten Mann in einem dunkelblauen Umhang, der eine große seidene Packtasche dabeihatte?«

      »Ja, bin froh, dass wir die beiden los sind. Die haben uns Unglück gebracht. Wind aus Osten. Wen wundert’s, haben sich die ganze Fahrt über benommen wie verschreckte Katzen«, murmelte der Junge, als er sich von ihr losmachte.

      Die beiden?, wunderte sich Milla. Mit wem war der ermordete Mann gereist? Und wo war diese Person jetzt?

      4. Kapitel

      Milla lotste die Zwillinge über die Schmugglertreppe nach Hause und scheuchte sie nach oben, damit sie sich umzogen. Nestan marschierte, auf einen geschnitzten und mit einer silbernen Spitze versehenen Gehstock gestützt, vor dem Haupttor auf und ab. Als Milla und die fein gekleideten Zwillinge schließlich auftauchten, fuhr er herum. Richal Finn lehnte in der feierlichen Aufmachung eines Schwertträgers an der Mauer, seine kurzen Haare glänzten nass, als hätte er eben noch den Kopf in den Brunnen getaucht.

      »Wo habt ihr gesteckt?«, fragte Nestan leise.

      Milla kannte diesen Ton. Niemand antwortete. Alle drei standen regungslos da, umklammerten ihre Masken und versuchten, wieder zu Atem zu kommen.

      Nestan nahm sie der Reihe nach prüfend ins Visier. Tarya trug ihr schönstes Kleid aus rosa Seide. Milla hatte ihre blonden Locken mit einem Band aus Glasperlen hastig zu einem hohen Knoten aufgesteckt und ihr die Perlenkette ihrer Mutter umgelegt. Isak stand steif und resigniert da. Er sah gut aus, schien sich in seinem cremefarbenen Seidenhemd und dem vornehmen Anzug aber nicht sehr wohlzufühlen. In der geschlossenen Faust hielt er eine weitere Phiole mit seiner Arznei.

      Milla strich ihr purpurfarbenes Kleid glatt. Heute Abend mussten selbst die Dienstmädchen fein herausgeputzt sein, deshalb hatte sie sich eines von Taryas abgelegten Kleidern geliehen. Es war das schönste Kleid, das sie je getragen hatte, ebenso wie die dazugehörigen Schuhe, die ihr nicht ganz passten. Genießerisch strich sie über den seidigen Stoff.

      Mit einem vorsichtigen Seitenblick sah sie zu Nestan und betete, dass sie seiner Überprüfung standhalten würden. Isak und Tarya mussten auf dem Ball erscheinen. Milla nicht. Er konnte sie mit einem Fingerschnippen durch Lanys ersetzen.

      Das würde Lanys gefallen, die ständig mit Richal Finn flirtete.

      »Du siehst gut aus, Tarya«, sagte Nestan schließlich. »Die Perlen stehen dir.«

      Isak richtete sich auf, weil er ebenfalls einige anerkennende Worte erwartete.

      »Isak? Mach uns dort oben keine Schande.«

      Isak sackte vor Enttäuschung zusammen.

      »Dein Vertrauen in mich ist wirklich beruhigend«, murmelte er leise.

      »Pst«, flüsterte Tarya. »Er hat das nicht so gemeint.«

      »Hat sich aber so angehört«, sagte Isak verkniffen. Er sah ganz unglücklich aus, aber Nestan schien es nicht zu bemerken. Er presste stumm die Kiefer zusammen. Neben Nestans üblichem Schwert zeichneten sich unter seinem schönsten Umhang aus mitternachtblauem Samt die schwachen Umrisse einer nicht ganz so üblichen zusätzlichen Klinge ab.

      Der Anblick von Nestans zusätzlicher Waffen bescherte Milla abermals ein flaues Gefühl im Magen. Aber wenn er sich entschlossen hatte, die Zwillinge heute Abend nicht zu beunruhigen, und ihnen den Mord verschwieg, dann musste sie mutig genug sein, seinem Beispiel zu folgen.

      Wie immer, wenn sie aufgeregt war, flogen ihre Finger zu der goldenen Schmuckmünze an ihrem Hals. Ihrem einzigen wirklichen Besitz.

      Sie zeichnete die Kontur des Motivs nach, das in das abgewetzte Metall eingestanzt war: ein fliegender Drache unter einem Vollmond.

      »Wir sind spät dran«, sagte Nestan kurz angebunden und wandte sich ab.

      Sie hatten bestanden! Milla würde tatsächlich zum Palast mitgehen. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und verschwand, sobald ihr der tote Mann wieder einfiel. Sie schwor sich, in der Nähe der Zwillinge zu bleiben und auf sie achtzugeben.

      »Fertig?« Tarya tänzelte die Stufen hinab, nahm den freien Arm ihres Vaters und drückte ihn, um ihre Atemlosigkeit als Aufregung zu tarnen.

      »Ich bin schon eine ganze Weile fertig«, erwiderte er kühl. »Jetzt setzt eure Masken auf und lasst uns gehen!« Nestan bedeutete den Wachen, das Tor zu öffnen.

      Es war dunkel und der Mond stand tief über dem Horizont: Fast


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