Drachentochter. Liz Flanagan

Drachentochter - Liz Flanagan


Скачать книгу
dort alle seine Kinder und nicht nur der hoch aufgeschossene dunkelhaarige junge Mann an seiner Seite.

      »Das ist bestimmt sein Sohn Vigo«, flüsterte Tarya Milla hinter vorgehaltener Hand zu.

      »Findest du ihn auch so gut aussehend, wie alle behaupten?«, fragte Milla sie neckend. Diese Menschen mit eigenen Augen zu sehen, gab ihr das Gefühl, in ein Märchen oder einen Traum hineinspaziert zu sein.

      »Weiß ich noch nicht«, sagte Tarya zögernd.

      »Hmm, das würde ich schon sagen«, meldete sich Isak neben ihr zu Wort, als handele es sich um eine knifflige Mathematikaufgabe, die gelöst werden wollte.

      Als hätte er sie gehört, fiel Vigos neugieriger Blick auf die Zwillinge.

      Tarya und Isak steckten die Köpfe zusammen und kicherten, bis Nestan sie streng ermahnte.

      Als Vigos Mutter das Kichern hörte, lächelte sie freundlich zu ihnen hinab. Herzogin Serina war beliebt in der Unterstadt. Alle wussten, dass sie ihr eigenes Vermögen besaß, mit dem sie überall in der Stadt Heilende und Hebammen bezahlte. Es wurde sogar erzählt, dass sie Kranke selbst behandelte. Die tanzenden Lichter fielen auf ihre aufgedrehten, tiefschwarzen Zöpfe und die weiße Lilie hinter ihrem Ohr. In ihrem orangefarbenen Kleid war Serina ein leuchtender Farbfleck in einem Meer aus schwarzen Uniformen.

      Der Herold trat vor und räusperte sich nervös. »Zu Ehren seines fünfzigsten Geburtstags wird Seine Gnaden vom heutigen Tag an den Namen Erster Drachenfürst von Arcosi tragen«, verkündete er.

      »Drachenfürst?«

      »Hat er Drachen gesagt?«

      Die Versammelten summten wie ein Bienenschwarm.

      Milla grub die Fingernägel in ihre feuchten Handflächen, um gegen die Hitze und das betäubende Hungergefühl anzukämpfen, das sie plötzlich überkam. Doch es war zu spät. Die Welt verschwamm vor ihren Augen zu einem Ozean aus bunten Punkten. Sie griff nach Taryas Hand, als wäre sie am Ertrinken.

      5. Kapitel

      »Milla! Was ist mit dir?« Tarya stützte sie. »Ist dir nicht gut?«

      Sie durfte nicht in Ohnmacht fallen, nicht auf dem Ball des Herzogs. Sie war hier, um Tarya zu helfen, und nicht umgekehrt. Milla kämpfte gegen den Schwindel an, beugte sich vor und schüttelte den Kopf, um den Nebel zu vertreiben. »Alles in Ordnung«, flüsterte sie. »Mir ist nur zu heiß.« Ihr Gesicht und ihr Nacken fühlten sich klamm an, ihr purpurnes Kleid schwer und feucht. Sie atmete in tiefen Zügen und zwang sich, den Worten des Herzogs zu lauschen.

      »Heute ist nicht nur mein Geburtstag«, sagte dieser. »Wir feiern heute Abend auch fünfzig Jahre in Arcosi. So lange ist es her, seit unsere Ahnen und Urahnen Hunger und Seuchen in den Norlanden entflohen und wohlbehalten diese Gestade erreichten. Fünfzig Jahre, seit unsere Gebete erhört wurden und wir Arcosi fanden, das auf uns wartete: unsere Zuflucht, leer wie eine verlassene Muschel, die auf ihren Einsiedlerkrebs wartet …«

      Sie alle kannten diese Geschichte: das Märchen von Arcosi.

      Tarya wandte sich zu Milla. »Ich wette, den interessanten Teil lässt er aus … den, wie seine Familie im Palast gelandet ist!«

      »Psst!«, sagte Milla, die sich hastig umsah, ob das jemand mitbekommen hatte. Das war Unterstadtgerede, die Sorte, für die man verhaftet werden konnte. Alle wussten, dass sich auf den ramponierten, windgepeitschten Schiffen vor fünfzig Jahren keine Adligen befunden hatten. Herzog Olwars Vorfahren waren schlicht und einfach jene gewesen, die den Mund am weitesten aufgemacht, am härtesten gekämpft und sich den schönsten Teil der verlassenen Inselstadt unter den Nagel gerissen hatten.

      »Warum? Es weiß doch jeder, dass er im Gegensatz zu seiner Frau kein echter Adliger ist«, zischte Tarya zurück. »Sie musste ihn bloß heiraten, um den Frieden zu besiegeln.«

      »Nicht jetzt. Und nicht hier …«, fauchte Isak seiner Schwester mit zusammengebissenen Zähnen zu. »Die Wachen schauen schon!«

      »Warum?«, wiederholte Tarya. »Das ist die Wahrheit!«

      Wieder drückte Milla ihre Hand und hoffte, dass sie die Botschaft verstand. Es war ein schmaler Grat zwischen Furchtlosigkeit und Leichtsinn, und sie war es gewohnt, dass Tarya sich darüber hinwegsetzte, aber heute Abend stand zu viel auf dem Spiel.

      Nestan drehte sich um und funkelte die Zwillinge an. Wie ein Habicht sah er aus mit seiner dunklen Maske.

      »Wir haben die alte Stadt wieder mit Leben gefüllt«, erklärte der Herzog gerade. »Und unsere Bemühungen stehen unter einem guten Stern. Unsere Schiffe werden mehr und unser Wohlstand nimmt zu. Unsere Kinder wachsen ohne Furcht auf.«

      Manche vielleicht. Milla fühlte sich unbehaglich, diesem goldenen Herzog in Gedanken zu widersprechen. Tarya unterdrückte ein Gähnen.

      »Zu Ehren dieses Tages – meines Geburtstags und der Ankunft unserer Vorfahren – mache ich mir das Symbol von Arcosi, der Geburtsstätte der Drachen, zu eigen.«

      Bei diesem magischen Wort wurde es totenstill. Milla hielt den Atem an.

      »Ich mache dieses stolze Bildnis von Arcosis Vergangenheit zu meinem Wappen. Die Drachen sind tot, auf rätselhafte Weise verschollen, genau wie die früheren Bewohner dieses Ortes …« Die Stadt war zwar voller Bilder der verschollenen Drachen: auf Schnitzereien und Statuen. Aber nicht eine dieser verwitterten Gravuren lieferte einen Hinweis darauf, wohin sie verschwunden waren.

      »Wir gedenken ihrer. Wir ehren sie.« Der Herzog machte ein bekümmertes Gesicht. »Doch jetzt sind wir die Kinder dieser Stadt.« Seine Miene hellte sich auf. »Wir sind die Kinder der Drachen. Und ich bin der Drachenfürst.«

      Bei diesen Worten erschollen Dutzende Trompeten, Schauspieler traten ein und trugen vier auf Holzstangen balancierende riesige Papierdrachen, die von innen leuchteten und dadurch lebendig wirkten. Die Menge raunte begeistert.

      Die Farbenpracht war überwältigend. Einer war so blau wie eine Pfauenfeder, einer so gelb wie Eidotter, einer so rot wie das Blut, das an diesem Tag vor Millas Augen vergossen worden war, und einer so grün wie ein frisches Blatt im Frühling. Die Papierdrachen breiteten die Flügel aus und flogen mit geschmeidigen Schwüngen um den Herzog herum, sodass ihre Schatten über die hohen Wände tanzten. Milla sah, wie die Armmuskeln der jungen Puppenspieler arbeiteten.

      Schließlich klatschte der Herzog in die Hände, die Drachentänzer hielten inne und versammelten sich um ihn. »Bitte«, befahl Olwar, »genießt die Unterhaltung und das Feuerwerk. Anschließend werde ich den Treueeid der jungen Männer entgegennehmen. Und danach lade ich euch hier in meinem Heim zu Speise, Trank und Tanz ein. Heute Abend stehen dem Volk von Arcosi meine Türen offen!«

      Die Menge hatte gebannt gelauscht und zugesehen. Die Menschen lächelten und hoben die Hände, um zu applaudieren. In diesem winzigen Moment des Schweigens ertönte ein merkwürdiges Geräusch: ein hohes, schrilles Wehklagen.

      Gehörte das zum Programm?

      Das breite Grinsen des Herzogs erlosch.

      »Du bist nicht der Drachenfürst!«, schrie eine Frauenstimme, so greinend und laut wie eine Katze in der Nacht.

      Wer sprach da? Milla sah sich um, die Menge hielt den Atem an.

      Auf einen Wink des Herzogs rückten die Leibgardisten von ihm ab und schoben sich lautlos zwischen die Besucher, um die unentdeckte Sprecherin zu suchen.

      »Ihr seid Diebe! Eindringlinge! Diese Stadt gehört euch nicht!«

      Es war, als würden alle zu Stein erstarren, die gesamte Schar der norländischen Edelleute.

      »Behaltet eure Papierdrachen! Etwas anderes als das werdet ihr nie kennenlernen.«

      Alle


Скачать книгу