Drachentochter. Liz Flanagan

Drachentochter - Liz Flanagan


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Mir fällt schon irgendeine Ausrede ein, dachte sie und machte einen Schritt nach vorn.

      Zu spät.

      Tarya und Vigo standen sich mitten auf der Tanzfläche reglos gegenüber. Seine Lippen bewegten sich.

      Tarya fuhr zurück und entriss Vigo ihre Hände.

      Die zuschauende Menge hielt hörbar den Atem an.

      Tarya wirkte wütend. Als sie die auf sie gerichteten Blicke bemerkte, setzte sie ein gezwungenes Lächeln auf und fächelte sich mit der Hand Luft zu: »Tut mir leid, vergebt mir, Euer Gnaden. Ich brauche frische Luft.« Sie floh aus der Halle.

      Als Milla sich umdrehte, um ihr zu folgen, entdeckte sie Nestan. Er hob den Kopf, begegnete ihrem Blick und sah für einen kurzen Moment schuldbewusst aus. Was hatte er getan?

      Milla holte Tarya im Garten ein. Sie legte ihr die Hand auf die Schulter, spürte ihre erhitzte Haut unter der hauchdünnen Seide ihres Ärmels.

      »Lass mich in Ruhe –«, brauste Tarya auf, als sie herumfuhr. »Ach, du bist es. Dich habe ich nicht gemeint.« Ihr Gesicht verzerrte sich. »Milla …«

      Auf Taryas Wangen schimmerten Tränen, die im Mondlicht silbern glänzten. Milla breitete die Arme aus.

      Tarya zog sie an sich und schluchzte in ihre Locken. »Vater hat ihm meine Hand versprochen … ihm!« Dann hob sie den Kopf, wischte sich übers Gesicht und schüttelte mit einer ärgerlichen Bewegung die Tränen ab. »Und Vigo hat es genossen, mir das mitzuteilen. Was für ein arroganter, blasierter, verzogener …«

      Dann stimmte es also. So sah Nestans Plan für seine Tochter aus – über den er und Isak vor ein paar Stunden gestritten hatten. »Ist schon gut, schhh!« Milla hielt Tarya fest und suchte nach tröstenden Worten, die sich aber selbst in ihren Ohren hohl anhörten. »Wir finden einen Weg. Es wird alles gut.«

      »Ich werde das nicht machen«, sagte Tarya. Jetzt schien die Wut die Oberhand zu gewinnen. »Du sagst immer zu mir, dass man eine Wahl hat, Milla, und das hier ist meine.«

      »Wie meinst du das? Was ist deine Wahl?«

      »Und wenn ich an meinem Hochzeitstag von der Palastmauer springe, ihn … heirate … ich nicht.«

      Milla hielt Tarya in den Armen, starrte zum runden Mond hinauf und fragte sich, wie ihre Welt sich an einem einzigen Tag so verändern konnte. Ihr Geheimnis brannte immer noch in ihrem Innern, doch sie schwieg weiter. Einstweilen.

      7. Kapitel

      Kurz vor Sonnenaufgang kehrten sie nach Hause zurück. Der Himmel verfärbte sich zu einem dunstigen Blau und selbst Tarya taumelte gähnend durch das Tor des Gelben Hauses. Milla hatte sie überredet, auf die Tanzfläche zurückzukehren – »Komm schon, Tarya! Zeig’s ihm. Zeig allen, was Mut heißt!« –, und dort war sie die ganze Nacht geblieben, ohne auf Vigos Blicke zu achten.

      Obwohl Milla völlig erschöpft war, blieb sie wach und wartete, bis alle anderen eingeschlafen waren. Ihre Pritsche war in einer Ecke der Diele im ersten Stock untergebracht, für den Fall, dass Tarya nachts nach ihr rief. So leise wie möglich zog sie wieder ihre Tunika und Hose an. Dann schlich sie mit gespitzten Ohren die Haupttreppe hinab. In der Eingangshalle blieb sie vor dem Mosaik von Vianna stehen; Milla wurde das Gefühl nicht los, dass die Hausherrin sie von dem Porträt aus missbilligend betrachtete. Außer tiefen Atemzügen, sägendem Schnarchen und entfernter Musik von den Feiern unten in der Stadt war nichts zu hören.

      Erst dann schlich sie in den Garten hinaus.

      Es wurde Zeit, die Wahrheit über die Packtasche herauszufinden. Es fühlte sich seltsam an, etwas ausschließlich für sich selbst zu tun, etwas, von dem nur sie allein wusste. Aber falls diese Tasche etwas Gefährliches enthielt, war es besser, wenn nur eine Person Schaden nahm. Sollte sie hingegen Edelsteine enthalten, nun, dann boten sie einen Ausweg für Tarya, Isak und sie selbst.

      Milla zog sich auf den Apfelsinenbaum und arbeitete sich durch die Blätter und Zweige zu der kleinen grünen Höhle vor. Möglicherweise das letzte Mal, dachte sie. Ihr Versteck fühlte sich nicht mehr nach einem sicheren Zufluchtsort an.

      Sie löste die Packtasche vom Ast und streifte sie sich über den Kopf. Zwei der gepolsterten Beutel reichten ihr hinten bis zu den Schulterblättern, die anderen beiden lagen vorn auf ihrem Brustkorb. Sie waren leichter als gedacht. Es schwappte keine Flüssigkeit darin herum, stattdessen spürte Milla in jedem einzelnen Beutel eine seltsam konzentrierte, träge Dichte. Die Packtasche war wunderschön: Auf die Tragriemen war mit Goldfäden ein Muster aus Blättern oder Flammen gestickt. Die Beutel glänzten jeder in einem anderen satten Farbton: Karmesin, Eisblau, Schlüsselblume und Moos. Allein die Packtasche war mehr wert, als Milla je besessen hatte, vom Inhalt ihrer Beutel ganz zu schweigen.

      Milla schob ein paar Zweige beiseite, um etwas mehr Licht in ihr Versteck zu lassen. Dann packte sie die Tasche und mühte sich mit zitternden Fingern, einen der geschnitzten Elfenbeinknöpfe aus seiner winzigen Schlinge zu lösen. Schließlich stand die Klappe des blauen Beutels offen. In diesem Moment drangen die ersten Sonnenstrahlen durch das Geäst und besprenkelten Milla mit ihrem Licht.

      Sie hielt den Atem an. Wann entzündete sich Feuerpulver? Genügte ein Sonnenstrahl? Sie schickte ein Gebet in den blassen Morgen und senkte den Kopf.

      Eingebettet in den mit Samt ausgeschlagenen Beutel lag ein glattes, glänzendes Etwas. Es war gewölbt und von einem hellen Türkis mit dunkelgoldenen Einsprengseln, die an die ersten Regentropfen auf einem Stein erinnerten. Vorsichtig schob Milla die Finger hinein und hob das Etwas heraus. Das Ding war glatt und eiförmig und größer als ihre beiden Hände. Ungläubig starrte sie es an. War das echt? Für ein Vogelei war es mit Sicherheit zu groß. Vielleicht ein Schmuckgegenstand?

      Sacht klopfte sie mit dem Fingernagel dagegen: Es klang weder hohl noch massiv, eher wie irgendetwas dazwischen. Es könnte ein seltener Vogel sein. Vielleicht ein Adler, mit dem der Herzog auf die Jagd gehen konnte?

      Als sie sich vorbeugte und das Ei mit den Lippen berührte, stellte sie fest, dass es sich überraschend warm und leicht feucht anfühlte. Es war nicht aus Stein. Es schien voller Kraft zu sein. Wach und lebendig. Kribbelnde Erregung jagte ihren Rücken hinauf, als ihr ein unglaublicher Gedanke kam.

      Die alte Frau auf dem Ball hatte davon gesprochen, dass Drachen nach Arcosi zurückkehren würden. Und ein Mann war getötet worden. Wenn das hier Dracheneier waren, würde dies erklären, warum.

       Dracheneier?

      Das konnte nicht sein. Sie war übermüdet. Sie träumte. Sagte Josi nicht immer, ihre Fantasie würde mit ihr durchgehen?

      Männer waren auf der Suche nach Dracheneiern bis ans Ende der Welt gesegelt, in den Kampf gezogen und gestorben. Und keiner hatte auch nur ein Gerücht über die Sichtung eines Dracheneis mit zurückgebracht.

      Es musste sich um einen Schatz handeln. Einen Edelstein. Lapislazuli vielleicht oder Quarz?

      Doch Millas Herz sagte etwas anderes.

      »Hallo, du da«, flüsterte sie, obwohl sie sich lächerlich vorkam, mit dem Ding zu sprechen. Dennoch fühlte sie sich unerklärlich davon angezogen. Während die Dämmerung in den Tag überging, saß sie da und wiegte es an ihrer Brust, als berge es den Herzschlag ihres eigenen Lebens.

      Schließlich fiel sie vor Erschöpfung fast vom Baum. Widerstrebend schob sie das blaue Ei zurück in die Geborgenheit seines Beutels. Dann öffnete sie die anderen Beutel und sah nach: drei weitere Eier, jedes von einer anderen Farbe, genau wie die Beutel selbst: gelb, rot und grün.

      Milla wusste, dass sie geradewegs zu Nestan gehen und ihm erzählen sollte, was sie gefunden hatte. Eine gute Dienerin würde so handeln. Er würde wissen, was es mit den Eiern auf sich hatte. Er würde wissen, was zu tun war. Doch dann würde sie auch zugeben müssen, dass sie dort gewesen


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