Drachentochter. Liz Flanagan

Drachentochter - Liz Flanagan


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einen Moment lang, weil sie an Vigo dachte und sofort auch an Tarya. Wenn es zu dem Verlöbnis käme, würde man auch über Tarya so reden. Jedes Kleid, jede Geste, jedes Wort würde kommentiert werden, bis sie irgendwann mehr und gleichzeitig weniger war als ein echter Mensch. Wie würde Tarya mit diesen prüfenden Blicken leben können?

      Rosa beobachtete sie und missdeutete ihr Zögern. »Also gut, wenn du es mir nicht erzählen willst –«

      »Nein, nein«, sagte Milla schnell. »Ich musste nur an etwas denken, was Vigo gesagt hat …«

      »Vigo? Ach, sind wir schon beim Vornamen? Du hast doch nicht wirklich mit ihm gesprochen?«

      Milla nickte und bemerkte, wie Rosas Miene sich veränderte.

      »Na, wenn du dort warst, muss ich dir das alles ja gar nicht erzählen!«, fauchte sie gekränkt. »Wenn du das nächste Mal im Palast mit dem Sohn des Herzogs tanzt, vergiss nicht, wer deine wahren Freunde sind …«

      »Ich habe nicht mit ihm getanzt«, wollte Milla gerade antworten, als sie von den Soldaten des Herzogs unterbrochen wurde, die bei ihnen ankamen.

      Einer der jüngeren Männer nahm ungeschickt den Deckel von einer Obstkiste und ließ ihn dann fallen.

      »He!«, rief Rosa. »Vorsicht! Du zerquetschst die Früchte!«

      Der Hauptmann verpasste dem jungen Mann eine Ohrfeige und knurrte: »Hast du die Befehle des Herzogs vergessen? Die Fracht ist zerbrechlich. Wer sie kaputt macht oder versteckt, der bezahlt mit seinem Leben, kapiert?«

      Der bezahlt mit seinem Leben? Millas Mund wurde so trocken wie sonnenheißer Sand. Der Herzog wollte diese Eier also unbedingt. Wahrscheinlich hatte der Mörder für ihn gearbeitet und ihm alles berichtet. Womöglich durchsuchten sie genau in diesem Moment das Gelbe Haus. Wer würde mit dem Leben bezahlen, wenn sie die Eier dort fanden?

      Sie leckte sich die trockenen Lippen. »Nach was suchen Sie denn?«, fragte Milla mit rauer Stimme.

      »Hüte deine Zunge, mein Fräulein. Das geht dich nichts an!«, fuhr der Mann sie an und murmelte im Weggehen etwas über Sartolaner.

      Der jüngere Soldat fing Millas Blick auf. Auch er war kein Norländer: Da die Armee des Herzogs beständig wuchs, war man gezwungen, für die niederen Ränge auch Männer anderer Herkunft aufzunehmen. »Tut mir leid!«, formte er tonlos mit den Lippen und eilte dem Älteren nach.

      »He, und was ist mit den Pfirsichen? Ihr könnt mir doch nicht einfach das Obst verderben und dann davonlaufen!«, rief Rosa ihnen nach. »Meine Eltern drehen durch.« Sie sprang auf den Boden und sammelte die verstreuten Früchte auf.

      »Sieh sie dir an, sie sind ganz zerquetscht. Ich wette, heute holen wir nicht mal die Miete für den Stand rein. Das ist so ungerecht. Irgendwann«, sagte sie empört, »nicht mehr lange, werde ich etwas dagegen unternehmen.« Die Schürze voller staubiger Pfirsiche, stand Rosa vorsichtig auf und starrte voller Groll über den Markt. »Wirklich. Ich schwör’s!«

      Die schattige Seite des Marktes war für die Stände der Norländer reserviert: Die kühleren Temperaturen schützten ihre Waren. Milla hätte auch dort einkaufen können – Nestans Papiere erlaubten es –, doch sie hielt Rosa die Treue. Sie wusste, wie hart die Zeiten waren. Milla hatte Rosa noch nie so verbittert erlebt, es fehlte nicht viel und sie rastete aus.

      »Josi braucht jede Menge Sachen, pack die Pfirsiche einfach dazu, sie kann sie heute Abend einkochen«, sagte Milla und gab Rosa ihre Liste. »Danke, Rosa.« Sie bemühte sich, ihre Stimme möglichst normal klingen zu lassen. »Du weißt, dass ich gestern Abend gern bei euch gewesen wäre, nicht?« Das stimmte weitgehend. »Dann sehen wir uns nächste Woche, ja? Versprochen?« Milla hatte jede zweite Woche einen halben Tag frei, den sie immer mit Rosa und Thom verbrachte.

      Sie küsste ihre Freundin auf beide Wangen und eilte, an jedem Arm einen Korb, zur Schmugglertreppe, um weiteren Patrouillen aus dem Weg zu gehen. Als sie den belebten Kai entlangging, schallte ein gellender Pfiff durch die Luft.

      »Milla!« Thom Windlass stand neben dem dicken Tau, mit dem die Delfin, das Fischerboot seines Vaters, festgemacht war. Sein breites, hübsches Gesicht strahlte bei ihrem Anblick.

      »Thom!« Milla konnte nicht anders, als zurückzustrahlen.

      »Hallo, Fremde! Wo warst du gestern Nacht?«

      Während sie Thom mit dem funkelnden Meer im Hintergrund anlächelte, wurde für einen kurzen Moment die Erinnerung an ihren Traum wieder lebendig: an das Gefühl von Freiheit und jene flüchtige Melodie. Dann verschwand sie wieder und ließ Milla voller Sehnsucht zurück.

      »Ich war mit den Zwillingen im Palast.« Sie wies den Hügel hinauf. »Aber egal. Warum fahrt ihr erst um diese Zeit raus?« Als sie die leeren Kisten bemerkte, die er gerade eingeladen hatte, neckte sie ihn: »Bist wohl spät dran nach gestern Abend?«

      »Du machst wohl Witze, Milla. Wir fahren schon zum zweiten Mal raus. Vater würde nie ausschlafen. Er kann nicht anders, als vor der Dämmerung aufzustehen.« Thom sah müde aus. Er hatte dunkle Ringe unter den großen braunen Augen. »War trotzdem ein tolles Fest. Und erst das Feuerwerk! Hast du es von dort oben gesehen?«

      »Klar. Aber warum fahrt ihr heute zweimal raus?« Milla wusste, dass Simeon Windlass ein hart arbeitender Mann war, trotzdem stimmte hier etwas nicht.

      »Der Wind ändert sich. Vater meint, ein Sturm zieht auf. Der erste in diesem Herbst, und ein großer dazu. Wir werden für ein paar Tage nicht aus dem Hafen kommen, also müssen wir doppelt ran, bis er sich zusammenbraut.«

      »Dann lasse ich euch mal fahren«, sagte Milla. »Mögen euch die Winde günstig und die Wellen gnädig sein«, fügte sie den alten Segensspruch der Seeleute hinzu. Sie stellte ihre Körbe ab und suchte in einem von beiden. »Hier, Rosa hat mir diese Pfirsiche obendrauf gelegt – fang!«

      »Danke«, sagte Thom. »Nimm dich in Acht vor dem Sturm.« Es war typisch für ihn, zuerst an sie zu denken, obwohl er derjenige war, der den Sturm draußen zu spüren bekam.

      »Jetzt, Thomsen!«, rief Simeon, der mit den Vorbereitungen fertig war.

      Thom beeilte sich, seinem Vater zu gehorchen. Er löste das schwere Tau, schlang es sich lose um den Arm und sprang dann über die größer werdende Lücke zwischen Kai und Boot. Mit seinen langen Beinen überwand er sie mühelos.

      »Wann kommt er?«, fiel Milla auf dem Weg zur Treppe ein. »Wie lange dauert es noch, bis der Sturm losbricht?«

      Simeon schaute zum Himmel. »Morgen bei Tagesanbruch ist er da.«

      »Glückliche Heimkehr euch beiden!«

      Mit dem Pfirsich zwischen den Zähnen nickte Thom zum Abschied, während er gleichzeitig die Taue verstaute.

      Milla sauste zur Treppe. Sie drehte sich noch einmal um, als die Delfin das gewaltige Hafentor passierte, wo das Meer mit einem Mal rauer wurde und das Boot hin und her warf. Es erklomm eine Welle und verschwand im Tal der nächsten.

      Dann wandte sie ihrem Freund den Rücken zu und lief los. Hoffentlich hatte niemand ihr Geheimnis entdeckt. Die Worte des Hauptmanns gingen ihr nicht aus dem Kopf: der bezahlt mit seinem Leben, der bezahlt mit seinem Leben.

      Sie hörte erst auf zu rennen, als sie die Räucherkammer erreichte. Ohne nachzudenken, ließ sie die Körbe fallen und stürmte geradewegs hinein, um nach dem Rechten zu sehen.

      Seufzend strich sie zärtlich über die Packtasche. »Hallo, du, wie geht es dir?«, flüsterte sie, als sie den blauen Beutel öffnete.

      Sie sang dem blauen Ei die halb erinnerte Melodie aus ihrem Traum vor und drückte sich in der Räucherkammer herum, bis man draußen nach ihr rief und sie zurück an die Arbeit musste.

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