Drachentochter. Liz Flanagan

Drachentochter - Liz Flanagan


Скачать книгу
aber heute war sie völlig durcheinander vor Müdigkeit. Urplötzlich verspürte sie den verrückten Drang, ihre Vermutungen laut herauszuposaunen: Ich habe Dracheneier gefunden! Die Drachen kehren zurück! Sie sind bereits hier!

      Die Leute würden schreiend herbeilaufen und rufen: Wo? Wir wollen die Drachen sehen! Und Milla wäre inmitten der erwartungsvollen, gierigen Gesichter eingequetscht. Die Wachen würden sie fortzerren, damit der Herzog höchstpersönlich sie verhören konnte.

      Sie blinzelte und der Tagtraum verschwand. Mehr war es nicht: ein Traum. Eine Einbildung. Ein Hirngespinst.

      Die Wachen winkten sie durch, und Milla rief Finn einen Abschiedsgruß zu, als sich ihre Wege beim Markt am belebten Kai trennten.

      Händler priesen ihre Ware an. Ihre wiederkehrenden Rufe erfüllten die Luft wie Vogelgesang. Milla hörte Gezänk und Geschacher auf Norländisch, Sartoli und in Dialekten, die sie nur erraten konnte. Sie sah Bewohner der Seideninseln mit ihren hübschen Jacken und bunt bedruckten Röcken; Händler aus dem tiefen Süden mit dicken Goldarmbändern, die matt in der Sonne glänzten. Die Insel Arcosi war ein Juwel, hier kreuzten sich alle Handelswege. Deshalb war ihr Markt auch stets voller Schätze. Dort fand man kunstvollen goldenen Schmuck, würzige Spezereien, kostbare glasierte Keramiken und feinste Lederarbeiten. Ein Seemann hatte einen zahmen Vogel mit blutroten Federn auf der Schulter; mit einem seiner gelben Knopfaugen beobachtete er Milla, als sie an ihm vorbeischlüpfte.

      Sie erreichte den Hauptteil des Platzes. Mit halb geschlossenen Augen atmete sie tief ein und genoss den vertrauten Geruch des Marktes: süße Zimtkrapfen, die zu ihrer Linken in einer großen Pfanne brieten; starker, dunkler Kaffee, der an einem Stand zu ihrer Rechten in einem großen Metalltopf köchelte; die warmen Ausdünstungen der Packesel, die geduldig im Schatten warteten. Doch als sie die Augen wieder aufschlug, bemerkte sie, dass irgendetwas nicht stimmte. Die Menschen standen in Gruppen dicht beieinander und blickten sich unbehaglich um.

      Es waren zu viele Wachleute da, die sich auf dem Markt ausbreiteten wie verschütteter Kaffee. Die Zahl der schwarzen Uniformen übertraf das bunte Durcheinander aus normalen Kleidern bei Weitem.

      Milla ging schneller und eilte zum Stand ihrer Freundin Rosa. Als sie sich durch die Menge schob, drehte sich einer der Wachleute um. »Warum so eilig?«, fragte er und stellte ihr ein Bein.

      Milla konnte nicht ausweichen und stolperte. Ihre Körbe flogen davon, sie stürzte und schürfte sich im Kies die Hände auf. Erhitzt und beschämt spuckte sie den Staub aus und kam mühsam auf die Beine.

      »He! Du Rüpel. Hast du nichts Besseres zu tun?« Rosa war zur Stelle und half Milla, aufzustehen und sich den Dreck von der Tunika zu wischen.

      Der Wachmann grinste zufrieden über Millas Sturz.

      »Lass es gut sein, Rosa, das ist die Sache nicht wert«, zischte Milla. Sie hatte schon erlebt, dass Menschen für weniger geschlagen und verhaftet wurden.

      Aber Rosa brüllte so laut, dass alle stehen blieben und hinschauten: »Ach, jetzt verstehe ich, du kannst wohl ein Mädchen nur so auf dich aufmerksam machen, was?«

      Die Marktbesucher kicherten amüsiert.

      Der Wachmann wurde knallrot. Mit schmalen Augen starrte er Rosa an.

      Entsetzt sah Milla, wie er nach seinem Schwert griff.

      10. Kapitel

      Milla überlegte blitzschnell. Sie streckte den Arm aus und kitzelte einen der angebundenen Maulesel mit dem rauen Griff ihres Korbs an der Hinterhand. Der Maulesel trat aus und stieß einen hohen Weinkrug um, der sich in den Staub ergoss wie Blut. Die Standbesitzer begannen zu schimpfen, Stimmen wurden laut, Hände fuchtelten durch die Luft. In dem ganzen Tumult achtete niemand mehr auf die beiden Mädchen.

      Milla zerrte Rosa hastig durch die Menge zu ihrem Stand. »Du solltest dich nicht mit ihnen anlegen.« Sie wusste, dass Rosas Familie die Auslösegebühr nie aufbringen könnte, falls man sie verhaftete.

      »Ich bin es leid! Für wen halten die sich? Einem norländischen Dienstmädchen würde er nie ein Bein stellen. Hast du dir wehgetan?«

      »Es geht mir gut, wirklich!« Milla schenkte ihren schmerzenden Händen keine Beachtung und vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, dass ihnen niemand folgte. »Aber danke.«

      Jetzt, wo sie in Sicherheit waren, umarmten sie sich.

      »Wie geht’s dir? Wie war es gestern Abend?«, wollte Milla wissen.

      Mit einem breiten Grinsen hievte sich Rosa auf den hölzernen Tresen des Verkaufsstands ihrer Familie, wo Obst, Käse und vom Festland importierter sartolischer Wein angeboten wurden. »Du hättest runterkommen sollen – wir haben dich beim Straßenfest vermisst …«

      »Hast du wirklich Wein mitgenommen?«, wisperte Milla. »Ich habe es gewusst!«

      »Ich habe ihn geteilt«, sagte Rosa und gab sich schuldbewusst. »Hat mir zu ein paar neuen Freunden verholfen, die Flasche. Und das waren nicht nur Langeweiler.« Als sie Milla von ihrem Abend berichtete, musste die zum ersten Mal an diesem Tag lachen.

      »Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen …«

      »Haben sie dich wieder zu Hause gelassen?« Wie ein Schatten wanderte die Sorge über Rosas schönes herzförmiges Gesicht. Sie hatte große braune Augen, die immer zu lachen schienen, und ihre fest geflochtenen Zöpfe standen zu beiden Seiten unter ihrem roten Tuch hervor.

      »Sag mir zuerst, was das hier zu bedeuten hat«, forderte Milla sie auf und wies mit dem Kopf zu den Soldaten des Herzogs. »Was erzählen die Leute? Was ist los?« In Arcosi flossen die Gerüchte wie Quellwasser bergab in die Unterstadt und nahmen dabei immer mehr an Fahrt auf. Rosa war stets auf dem Laufenden.

      »Hast du es denn noch nicht gehört? Es heißt, der Herzog hätte auf seinem wunderbaren Ball unerwarteten Besuch bekommen, und jetzt herrscht Weltuntergangstimmung.« Sie erzählte Milla eine übertriebene Version des Auftritts der alten Frau im Palast. »Das ist der Fluch von Arcosi, sagt Vater, genau wie in den alten Zeiten.«

      »Welcher Fluch? Das ist doch Unsinn. Bis gestern Abend hat kein Mensch je behauptet, Arcosi wäre verflucht.« Milla schauderte. Sie wollte nichts von Flüchen wissen. Nicht heute.

      »Aber vom Vermächtnis des verrückten Königs hast du gehört? Rufus, der letzte Herrscher im Alten Arcosi. Der mit seinem Drachen den Krieg gegen Sartola gewonnen hat und dann verschwunden ist?«, hakte Rosa nach. »Die Geschichte kennt jedes Kind.«

      »Ich arbeite für Norländer, die erzählen sich andere Geschichten.« Milla sah die Soldaten von einem Stand zum nächsten ziehen. »Dann suchen sie also nach ihr? Der alten Frau vom Ball?« Sie erinnerte sich, dass der Herzog eine Belohnung für ihre Ergreifung ausgesetzt hatte.

      »Ach was, sieh sie dir doch an. Die suchen nach etwas sehr Kleinem, etwas, das in die Kisten passt.«

      Milla stieg das Blut ins Gesicht. Sie suchten bestimmt nach den Eiern.

      Während ihr Herz aufgeregt klopfte, sah sie mit an, wie die Soldaten den Verkaufsstand gegenüber durchwühlten. Hatten sie schon das Gelbe Haus durchsucht? Milla umklammerte die Griffe ihrer Körbe und widerstand dem Drang, nach Hause zu laufen und nachzusehen. Hoffentlich bemerkte niemand ihre glühenden Wangen.

      »Schau nur, wie nett sie mit den norländischen Händlern umgehen.« Rosa schickte den Soldaten einen leisen Fluch hinüber. »Ich wette, bei uns wird es schlimmer. Das geht den Sartolanern immer so, selbst wenn wir in der Überzahl sind. Besonders dann …«

      »Ich bleibe bei dir«, sagte Milla. »Und um deine Frage zu beantworten, nein, sie haben mich nicht zu Hause gelassen. Ich war da …«

      »Was? Du hast den Herzog gesehen?« Rosa fiel fast vom Holzbrett des Marktstandes. »Wie ist er so? Und


Скачать книгу