Drachentochter. Liz Flanagan

Drachentochter - Liz Flanagan


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      »Alles wird gut, mein Kätzchen.« Josi nahm Milla in den Arm. »Du kannst es mir erzählen.«

      Aber Milla machte sich los. Nichts erschien ihr mehr sicher. Sie setzte sich auf einen kleinen Schemel beim Feuer. Skalla, der Küchenkater, kam und miaute, bis er auf ihren Schoß springen durfte. Geistesabwesend strich sie über sein schwarzes Fell.

      »Hier.« Josi reichte ihr einen mit Ziegenkäse bestrichenen Kanten Brot, außerdem eine Schüssel warme Milch, in die sie Honig und Muskatnuss gerührt hatte.

      Getröstet von dem guten Essen und Skallas behaglichem Schnurren, starrte Milla in die Flammen und tauchte das Brot in die Milch.

      »Erzählst du mir jetzt, was los ist?«, versuchte Josi es noch einmal. »Geht es um Lady Taryas Verlöbnis?«

      Milla nickte. Das war erst einmal sicheres Terrain. »Lanys hat gesagt, wenn Tarya in den Palast zieht, brauchen sie keine zwei Dienstmädchen mehr. Was passiert dann mit mir? Wird Nestan« – sie flüsterte die Worte – »mich entlassen?«

      »Führt Lanys hier den Haushalt?«, fauchte Josi.

      »Nein.«

      »Warum hörst du dann auf sie? Lanys ist einfach nur eifersüchtig. Du und Tarya seid seit dem Tag befreundet, an dem du hier ankamst, und nichts kann das ändern. Du wirst hier immer ein Zuhause haben.«

      Josis Worte wärmten Milla wie die Hitze des Feuers. Sie ließ Skalla die Krümel von ihren Fingerspitzen lecken und musste lächeln, als seine kleine raue Zunge über ihre Haut schabte.

      »Was passieren wird«, sagte Josi, »das weiß ich, ehrlich gesagt, auch nicht.«

      »Jemanden wie mich werden sie im Palast vermutlich nicht haben wollen, oder?«, fragte Milla. »Aber wenn Tarya verheiratet ist, wird sie mich trotzdem brauchen.«

      »Das wird sie, Liebes, das wird sie«, stimmte Josi ihr zu. »Aber etwas brauchen oder es zu bekommen, sind zwei völlig verschiedene Dinge, wie wir beide wissen.« Sie begann, pudriges Mehl in eine Schüssel zu schütten.

      Wie dumm von mir, dass ich nicht selbst daran gedacht habe, was eines Tages geschehen könnte, dachte Milla. »Aber … aber wenn Tarya geht, gehe ich dann auch? Ich will dich nicht verlassen, Josi!« Die Dinge veränderten sich so schnell, dass ihr fast schwindlig wurde.

      Milla kannte nur das Leben und die Arbeit hier in diesem Haus. Bei den Zwillingen war das anders: Die Erinnerungen an ihre Mutter verblassten allmählich, genau wie das wunderschöne Mosaik von Vianna, das in der Eingangshalle eine ganze Wand einnahm. Und so wie das Porträt hin und wieder aufgefrischt wurde, damit die Farben lebendig blieben, so hielten die Geschichten über Vianna die Erinnerung an sie wach.

      Milla hatte keine Erinnerungen an etwas anderes. Keine Geschichten. Keine Mutter.

      Schlagartig fiel ihr ein, wie die alte Frau sie letzte Nacht angestarrt hatte. Sie nahm die Kette mit ihrer Schmuckmünze in die Hand und rieb das von der Haut erwärmte Gold an ihrer Unterlippe, spürte die winzigen Umrisse des Drachen und des Mondes. Lanys Worte hafteten noch schmerzhaft frisch in ihrem Gedächtnis. »Wo hat die Mutter der Zwillinge mich gefunden, Josi?«

      Josis Stimme wurde weicher: »Es tut mir leid, mein Kätzchen, das wissen wir nicht. Deine Geschichte ist mit Vianna gestorben«, sagte sie, während ihre Hände emsig Fett in das Mehl kneteten.

      »Und wann war das? Wie alt bin ich genau?«

      »Das weißt du doch alles«, sagte Josi, ohne Milla anzusehen. »Wir haben dich damals auf zwei geschätzt, also bist du jetzt zwölf. Nächstes Frühjahr wirst du dreizehn.«

      »Aber ein richtiger Geburtstag ist das nicht. Ihr habt ihn bloß erfunden.«

      »Er hat sich richtig angefühlt«, sagte Josi, den Blick stur nach unten gerichtet.

      Milla beobachtete sie aufmerksam. Was verschwieg Josi ihr? »Dann könnte also jeder mit mir verwandt sein?« Darüber hatte sie schon viel nachgedacht. Sie stellte sich eine reiche Familie aus Sartola vor, mit dunkeläugigen Brüdern und Schwestern, die aussahen wie sie. Oder die Familie eines Seemanns, die bei jedem Wetter auf dem Meer war. Oder einen Clan von Händlern, deren Mitglieder die Welt bereisten, Tauschhandel trieben und Gewürze, Seide und Keramiken mit nach Hause brachten.

      »Möglicherweise«, sagte Josi. »Aber warum willst du das wissen? Du hast einen Platz zum Schlafen und Menschen, die für dich sorgen. Das ist mehr, als andere haben. Reicht dir das nicht?«

      Früher hatte Milla diese Geschichten geliebt, weil sie glaubte, sie verbänden sie mit Josi, den Zwillingen und Nestan. Doch an diesem strahlenden Morgen, am Tag nachdem sich alles verändert hatte, war es plötzlich nicht mehr genug.

      Milla wollte mehr wissen.

      9. Kapitel

      Als Josi sie zum Markt schickte, hätte Milla sich am liebsten geweigert.

      Nein!, hätte sie fast gerufen. Ich kann die Eier nicht allein lassen. Sei nicht lächerlich, ermahnte sie sich. Bist du etwa eine brütende Henne? Sie gehören dir nicht und womöglich schlüpft nie etwas aus ihnen. Dennoch zog sich ihr beim Gedanken an die vier Eier schmerzhaft das Herz zusammen.

      Aus den Regalen im Vorratsraum nahm Milla zwei Körbe und die verschlissenen Pergamente mit den Stempeln, mit denen sie sich ausweisen konnte. Um ihre vor Erschöpfung gereizten Augen vor der Sonne zu schützen, band sie sich ein Tuch um den Kopf.

      Da fiel ein Schatten in den Raum und Milla wirbelte erschrocken herum. Bestimmt war der Mörder von gestern zurückgekommen, um sie zu holen!

      »Ganz ruhig, Milla«, sagte Richal Finn. »Was ist los?« Robust und verlässlich wie immer, stand er im Eingang.

      »Tut mir leid! Bin heute ein bisschen hibbelig.« Erleichtert legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Bin bloß müde wegen gestern Nacht.«

      »Ein merkwürdiger Abend«, stimmte er ihr zu. »Aber keine Sorge, hier bist du sicher.« Dann fragte er: »Und was ist jetzt mit Lady Tarya und dem Sohn des Herzogs?« und klang dabei fast ein wenig, als wollte er tratschen.

      Milla musterte ihn verblüfft. Das sah Finn gar nicht ähnlich. Wollte er sie oder Tarya kontrollieren? »Es wird schon werden. Sie braucht nur ein bisschen Zeit, wart’s nur ab.« Sie drehte sich um und überquerte dann mit Finn an ihrer Seite den Hof.

      Lanys stand in der Tür und machte ein neidisches Gesicht, als sie Milla so unbeschwert mit Richal Finn plaudern sah. Milla entschied sich, sie nicht zu beachten.

      »Meinst du, sie kommt später auf den Übungsplatz?«, fragte er. »Vielleicht sollte ich mir eine dickere Rüstung zulegen, wenn sie ihren Ärger an mir auslassen will, hm?«

      »Mach dich auf eine Abreibung gefasst, Finn.« Bei dieser Vorstellung musste Milla unwillkürlich lächeln. »Besser du als ich. Ich werde einen kühlen Schlauch Bier im Brunnen bereithalten. Ist das recht?«

      »Dank dir, Milla. Gehst du hinunter in die Stadt? Dann komme ich ein Stück mit dir. Ich will ohnehin in die Richtung«, sagte Finn, als er das Tor öffnete.

      »Gern.« Sie war froh, Finn an ihrer Seite zu haben. Er war groß, ruhig und anspruchslos. Kaum waren sie auf der Hauptstraße, begegneten sie auch schon einer Patrouille.

      »Papiere!«, raunzte der vorderste Wachmann, als er Milla erreichte. Dann sah er Finn und mäßigte seinen Tonfall etwas. »Hast du eine Genehmigung für den Aufenthalt in der Oberstadt?«

      Wie anders sie doch mit Richal Finn umgingen, weil er ein Norländer war! Auch wenn Milla nichts über ihre Familie wusste, war für jedermann ersichtlich, dass sie keine norländischen Ahnen hatte, daher wappnete sie sich für eine weitere Befragung.

      »Ja.« Sie holte ihre Papiere heraus


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