Drachentochter. Liz Flanagan

Drachentochter - Liz Flanagan


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      Sie würde die Zwillinge fragen, beschloss sie mit einem Gähnen. Sobald sich eine Gelegenheit ergab. Wenn Tarya sich beruhigt hatte, würde Milla sie um Rat fragen.

      Einstweilen hatte sie ein Versprechen zu halten, das sie einem Toten gegeben hatte. Ein neuer, tiefer Beschützerinstinkt erwachte in ihr. »Ich werde auf euch aufpassen!«, wisperte sie. Was auch immer sie sein mochten, Milla konnte sie nicht aufgeben. Das wusste sie ebenso sicher wie ihren eigenen Namen.

      Milla kletterte langsam und mit einer Hand den Baum hinab, damit sie die Packtasche auf ihrer Schulter möglichst nicht erschütterte. Sie hatte einen Arm um die vorderen Beutel gelegt und schützte die Eier wie ein Neugeborenes. Ihr Herz klopfte heftig unter dem gepolsterten Stoff, als sie sich durch den Garten stahl. So leise wie Skalla, wenn er Feldmäusen nachstellte, schlich sie um das Küchengebäude herum. Die Räucherkammer grenzte an die Rückseite des Schornsteins vom großen Küchenherd. Milla zog den ledernen Vorhang beiseite, mit dem die Holztür abgedichtet wurde, und schlüpfte hinein.

      Der Rauch drang ihr sofort in die Kehle: scharf, dicht und leicht beißend, mit einem Aroma von Fisch und Käse. Sie streckte die Hand aus und tastete sich im Dunkeln an den schweren Fischkörpern vorbei zu dem großen Salbeibündel, das sie gestern dort aufgehängt hatte. Sie nahm es ab, hängte die Packtasche nach oben und das Salbeibündel anschließend wieder davor.

      »Hier seid ihr sicher.« Wer kam schon in die Räucherkammer und schaute in die trübe, rauchige Wärme hinauf? Und selbst wenn jemand auf die Idee käme, war praktisch nichts zu sehen.

      Dann wankte Milla taumelnd zu ihrer Pritsche. Dort lag sie, starrte an die Decke und versuchte sich darüber klar zu werden, was sie tun sollte, bis die Erschöpfung schließlich die Oberhand gewann und sie in einen leichten Schlaf fiel.

      8. Kapitel

      Milla träumte von Blau. Tiefem, endlosem Blau, wie das Meer. In ihrem Traum sauste sie über blaues Wasser. Sie flog durch diesige blaue Luft, wurde angehoben und gehalten von Bläue. Musik gab es auch in ihrem Traum. Sie sang, laut und klar. Die gleichen immer wiederkehrenden Töne, die auf- und abstiegen. Wie ein Echo kehrte die Melodie zu ihr zurück. In ihrem Traum war sie so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Freude durchströmte sie wie heißes Sonnenlicht. Und das alles lag nur an –

      »Milla! Wo steckt sie bloß? Sie ist zu spät!« Lanys wütende Worte schwebten die Treppe hinauf.

      Ganz in der Nähe sang Isak, zum ersten Mal seit Tagen: Vielleicht erklärte das die Musik in ihrem Traum.

      Milla rappelte sich auf und floh über die steile Hintertreppe nach unten. Immer noch schlaftrunken, lief sie hinaus, um nach den Eiern zu sehen. Blinzelnd sah sie zum strahlend blauen Himmel und wollte sich am liebsten in ihren Traum einwickeln und dieses vollkommene Gefühl noch ein wenig länger festhalten. Sie spitzte die Lippen und pfiff, um die Melodie einzufangen, ehe sie verblasste. Die fünf schwermütigen Töne … Zu spät, sie waren fort.

      In der schummerigen Räucherkammer holte sie jedes einzelne Ei aus seinem Versteck. Sie begrüßte sie nacheinander, verharrte beim blauen ein wenig länger und untersuchte alle auf irgendwelche Beschädigungen, ehe sie die Eier wieder sorgfältig versteckte. Als sie hinaus ins Freie trat, blinzelte sie ins Licht der späten Morgensonne. Ihre Gedanken sausten im Kreis.

      Ihr Blick fiel auf das Küchenfenster und sie wurde schlagartig wach. Drinnen standen Nestan und Josi in einer engen Umarmung. Dann trat er zurück und strich Josi zärtlich über die feuchte Wange.

      »Wo bist du gewesen?«, fragte Lanys in dem Moment.

      Milla schrak schuldbewusst zusammen und fuhr herum. »Ich habe nur nach den neuen Käselaibern gesehen«, log sie und verriegelte den Eingang der Räucherkammer.

      »Hier, nimm. Das Frühstück ist deine Aufgabe. Nur weil du in den Palast durftest, brauchst du nicht auf dumme Gedanken zu kommen.« Lanys funkelte Milla böse an und drückte ihr ein Tablett mit schmutzigem Geschirr in die Hand.

      Zu überrumpelt, um zu antworten, nahm Milla es entgegen.

      Selbst ihr Schweigen machte Lanys wütend.

      »Nur zu, faulenze, so viel du willst. Du weißt, was letzte Nacht bedeutet, oder? Wenn die Zwillinge fort sind, brauchen sie keine zwei Dienstmädchen mehr. Sie haben dich auf der Straße aufgelesen und dort wirst du auch wieder landen, wart’s nur ab«, zischte Lanys, ehe sie ins Haus zurückmarschierte.

      Völlig erschöpft taumelte Milla mit dem schweren Tablett in Richtung Küche.

      »Alles in Ordnung, Milla?« Nestan kam ihr entgegen und sah genauso besorgt aus, wie Milla sich fühlte. »Hast du überhaupt geschlafen?«

      Milla murmelte irgendetwas Unverständliches.

      »Du solltest besser reingehen …« Nestan tätschelte ihren Arm und ging.

      Also trat Milla in die Küche und stellte das Tablett ab.

      Josi stand mit dem Rücken zu ihr am Arbeitstisch, die kurzen schwarzen Haare hatte sie hinter die Ohren geschoben. Sie schlug mit einem Hackbeil auf eine Lammkeule ein, die eine solch grobe Behandlung eigentlich nicht nötig hatte. Über Josis Kopf baumelten Bratpfannen, zwei Hasen, die darauf warteten, gehäutet zu werden, ein geflochtener Strang Zwiebeln und ein paar Stängel frisch gepflücktes Basilikum, das die Luft mit seinem intensiven Duft erfüllte.

      Allein in der Küche zu stehen, half Milla, sich besser zu fühlen. Wenn das Gelbe Haus ihr Zuhause war, dann war die Küche sein Herz. Angezogen von der Wärme und den unwiderstehlichen Düften, die den ganzen Tag aus dem Fenster drangen, kamen früher oder später alle hierher. Josi mochte für ihre Launen berühmt sein, aber sie war es ebenso für ihre Kochkunst und ihre guten Ratschläge.

      »Josi?«, fragte Milla, bemüht, sie nicht zu erschrecken. Sie sprachen immer auf Sartoli miteinander, schwenkten aber sofort ins Norländische um, sobald jemand zur Tür hereinkam.

      Mit einem lauten Knall grub sich das Hackbeil in das Holzbrett.

      »Was ist los?« Milla erschrak, als sie die Tränen entdeckte, die Josi übers Gesicht liefen. Sie hatte sie noch nie weinen sehen. Sie hatte auch Nestan und Josi noch nie so zusammen gesehen. Ihr war, als würde sich der Boden unter ihren Füßen bewegen.

      »Nichts – sind bloß die Zwiebeln!«, erwiderte Josi brüsk, als sie das Fleisch in den Topf warf und scheppernd den Deckel darauflegte.

      Von wegen. Milla erhaschte einen Blick auf die Zwiebeln. Die waren mit Thymian und Knoblauch gründlich angedünstet und verursachten schon lange keine Tränen mehr.

      »Warum bist du überhaupt auf den Beinen?«, wollte Josi wissen. »Ich habe Lanys aufgetragen, das Frühstück zu servieren, damit du dich ausruhen kannst.« Sie fuhr sich mit der Schürze über das Gesicht.

      »Ich weiß.«

      »Du meinst, du wolltest dich bei mir bedanken«, sagte Josi streng, doch ihre dunklen Augen blickten warm und funkelten wieder vor Leben. Dann bemerkte sie Millas Gesichtsausdruck. »Was ist los?« Sie ging zu ihr, legte Milla die Hände auf die Schultern und sah sie prüfend an.

      »Ach, Josi«, begann Milla, die spürte, dass eine ganze Flut von Worten aus ihr herauszubrechen drohte: über den Mord, die Eier, den Ball des Herzogs letzte Nacht. Wie gern würde sie Josi um Rat fragen. Die Worte drängten regelrecht auf ihre Zunge. Sie musste etwas über den Mann erfahren, der direkt vor ihrer Küchentür ermordet worden war.

      Doch dann erstarrte sie. Wenn Josi jetzt zu Nestan gehörte, änderte das alles. Dann waren sie nicht mehr gleichgestellt. Josi würde bald die Dame des Hauses sein. Die Leute heirateten ständig außerhalb ihrer Kreise: Selbst der Herzog hatte das getan. Die Mutter ihres Freundes Thom war Sartolanerin, sein Vater Norländer. Aber Nestan und Josi … das hatte Milla nicht kommen sehen. Also schluckte sie ihre Worte hinunter wie bittere


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