Drachentochter. Liz Flanagan

Drachentochter - Liz Flanagan


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uns …« Die Frau sprach mit dem gleichen Akzent wie der ermordete Mann. »Unsere Leute wurden versklavt. Sie starben auf der Flucht. Diese Steine tragen unser Blut. Unsere Geister spuken um eure Betten. Hört ihr sie nicht?«

      »Findet sie!«, brüllte der Herzog jetzt. Abgesehen von den roten Flecken auf seinen Wangen war sein Gesicht noch blasser als sonst.

      Ohne auf die Zwillinge zu achten, schob sich Milla nach vorn. Sie hatte die Sprecherin entdeckt: eine alte Frau mitten in der Menge.

      Die Frau breitete die Arme aus und schritt, scheinbar ohne jede Angst, im Kreis herum. Ihre grauen Haare waren von silberweißen Strähnen durchzogen und zu einem losen Knoten aufgebunden, der den Blick auf goldene Kreolen an ihren Ohren freigab. Ihre Haut war tiefbraun, ihr Gesicht so verwittert wie ein Stück Treibholz. Aufrecht und stolz stand sie da, selbst als die Wachen näher kamen.

      Auf der Innenseite ihres Arms entdeckte Milla die gleiche schwarze Tätowierung wie jene, die sie an dem Mann im blauen Umhang gesehen hatte. Und der Stoff ihres Kleides? Auch er glich dem des toten Mannes. Waren sie die beiden Reisenden auf dem Schiff, das vorhin angelegt hatte?

      Als die Wachen die Menschen mit den Ellbogen zur Seite drängten, um zu ihr zu gelangen, sprach die Frau schneller: »Wir wurden von hier fortgerissen. Aber ich bin in meine Heimat zurückgekehrt. Und ich bin nicht die Einzige. Eure Tage hier sind gezählt, ihr werdet sehen …«

      Ihre Stimme gewann immer mehr an Stärke, sie wurde laut und klar, sodass niemandem auch nur eine Silbe entging: »Wir kommen nach Hause. Die Drachen von Arcosi werden zurückkehren! Und sie werden niemals euch gehören!«

      Dann setzte die Frau ihre Kapuze auf und zog sich in den hinteren Teil der Halle zurück.

      »Eine Belohnung für die Ergreifung dieser Frau!«, rief der Herzog. »Wohin ist sie gegangen?«

      Milla beobachtete die suchenden Wachen und hielt den Mund.

      Als die Frau an ihr vorüberging, begegneten sich ihre Blicke. Die glänzenden braunen Knopfaugen fixierten Milla, die den Blick nicht abwenden konnte.

      Er ist tot! Jemand hat deinen Freund getötet. Du bist in Gefahr! Am liebsten hätte Milla die Frau festgehalten und ihr erzählt, was sie gesehen hatte, aber ihr Mund schien voller Sägemehl zu sein, sie bekam keinen Ton heraus.

      Die Frau senkte für einen kurzen Moment den Blick und richtete ihn auf die goldene Schmuckmünze an Millas Hals. Sie atmete laut ein und ihre Augen weiteten sich. Überraschung, Freude, Angst: All diese Gefühle spiegelten sich wie Wolkenschatten auf dem Meer in schneller Folge in ihrem Gesicht.

      Milla wurde heiß unter der Maske.

      Die Frau zog sich zurück, ließ Milla aber nicht aus den Augen, als versuchte sie, ihr etwas mitzuteilen.

      Neugierig geworden, wen diese Frau anstarrte, sahen sich die Menschen nach Milla um. Diese senkte den Kopf. Sie war froh, dass die purpurne Maske ihr Gesicht bedeckte, und wich langsam zurück. Dann drehte sie sich um, riss die Maske herunter und schob sie in die Tasche ihres Kleides, damit niemand sie daran erkannte. Sie erreichte das Podest mit der herzoglichen Familie und umrundete es verstohlen. Hoffentlich bemerkte sie niemand!

      Herzogin Serina stand neben ihrem Mann und sprach leise auf ihn ein. Mit ihrer reinen goldbraunen Haut, den hohen Wangenknochen und den ausdrucksvollen Augen, die im gedämpften Licht schwarz wirkten, war sie selbst mit sorgenvoller Stirn atemberaubend schön.

      »Warum rufst du die Wachen nicht zurück?«, fragte sie den Herzog. »Diese Frau sah alt aus. Sie war allein. Sie ist keine Bedrohung für uns.«

      »Meine Liebe.« Herzog Olwars Stimme war beherrscht und sehr leise. Er starrte auf die Herzogin hinab. »Lass es gut sein. Lass die Wachen sich darum kümmern …«

      Milla stand am hinteren Rand des Podests, nah genug, um zu sehen, dass die Fingerknöchel des Herzogs weiß wurden, als er den Arm seiner Frau umklammerte.

      Plötzlich bemerkte Milla aus den Augenwinkeln eine winzige Bewegung. Während alle anderen durch die Wachen abgelenkt wurden, die die Menge durchkämmten, hatte die alte Frau das hintere Ende der Halle erreicht. Ihr tiefblauer Umhang war im Dunkeln kaum zu sehen. Sie zog einen Wandbehang zur Seite und verschwand hinter dem Bilderteppich.

      Niemand sonst sah sie entkommen.

      Milla spürte, wie ihr die Worte Da ist sie. Sie entkommt! die Kehle hinaufstiegen. Doch dann erinnerte sie sich an den strahlenden Glanz des Wiedererkennens in den braunen Augen der Frau und schwieg.

      6. Kapitel

      Die Unterbrechung hatte die Planungen durcheinandergebracht. Draußen vor der Halle begann das Feuerwerk. Milla hörte das Heulen und Zischen, mit dem die Raketen zum Himmel hinaufschossen. Die Menschen schwärmten durch die großen Türen der Drachenhalle, um dem Spektakel beizuwohnen: Funkelnde goldene Blüten explodierten in der Luft und gingen schimmernd über der Insel nieder. Von der Menschenmasse mitgerissen, die in den Garten hinausströmte, geriet Milla ins Stolpern.

      Die Menschen schoben ihre protzigen Masken zurück, um besser sehen zu können. Dahinter kamen geschockte Mienen mit einem starren, aufgesetzten Lächeln zum Vorschein. Selbst die goldenen, grünen und scharlachroten Lichter des Feuerwerks änderten nichts daran. Herzog Olwars Gesicht war wie versteinert. Anspannung und Beklemmung machten sich breit.

      Milla fand Tarya und Isak wieder.

      »Wer war diese Frau?«, flüsterte Tarya im Lärm des Feuerwerks. »Hat sie wirklich Drachen gesagt?«

      »Bestimmt hat sie bloß in Symbolen gesprochen, wie der Herzog, oder?« Milla war immer noch wie benebelt vor Hitze und Hunger.

      »Wie hat sie das mit den Menschen gemeint, die hier früher gelebt haben?« Die Vorstellung schien Isak zu entsetzen. Er schob seine Augengläser nach oben. »Es kann doch nicht sein, dass sie zurückkommen!« Sein Atem ging wieder flach und schnell.

      »Atme mit mir, Isak. Komm, wir setzen uns hier hin.« Tarya legte ihm die Hand auf den Rücken und holte in tiefen, langsamen Zügen Luft, was er nachahmen sollte. »Schon viel besser.« Die Konzentration und die Sorge um ihn standen ihr ins Gesicht geschrieben.

      »Na ja, irgendjemand muss die Stadt ja erbaut haben. Und dann verschwunden sein«, sagte Milla. »Was habt ihr denn gedacht?«

      »Die Frau war wütend. Aber wir können doch nichts dafür!«, sagte Isak zwischen abgehackten Atemzügen. »Wie auch? Die Stadt war leer, als unsere Leute hier ankamen. Und wir sind hier geboren.« Er beugte sich vor und legte einen Finger auf seine Augengläser, damit sie an Ort und Stelle blieben. Während er über die Palastgärten aufs Meer hinausstarrte, das die letzten Funken des Feuerwerks als kleine Lichtpunkte zurückwarf, wurden seine Atemzüge ruhiger. »Das hier ist unser Zuhause. Was vorher passiert ist, ist nicht unsere Schuld.«

      »Wo stecken diese Menschen jetzt?«, fragte Tarya, die immer noch den Arm um ihren Bruder gelegt hatte. »Wenn die Stadt ihnen gehört, warum kommen sie nicht her und holen sie sich zurück?«

      »Sie hat nicht gesagt, dass wir schuld sind«, mischte sich Milla ein. »Nur, dass Menschen gestorben sind. Von Schuld hat sie nichts gesagt –«

      »Wen kümmert schon die Schuldfrage, was ist mit den Drachen?«, unterbrach Tarya sie. »Sie hat gesagt, dass sie wiederkommen! Man hat doch jahrelang gesucht …«

      Die nächste Ankündigung eines nervösen Herolds ersparte Milla weitere Fragen.

      »Die jungen Männer von Arcosi werden nun vor dem Drachenfürsten ihren Eid ablegen!«

      »Jetzt?«, fragte Isak. »Ich bin noch nicht bereit, Tarya.« Der Herzog hatte sich aus Anlass seines Geburtstags eine komplizierte Eidesformel ausgedacht und alle würden zuhören.

      Tarya half Isak beim


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