Drachentochter. Liz Flanagan

Drachentochter - Liz Flanagan


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      3. Kapitel

      »Bilgendreck!«, fluchte Tarya. »Warum ausgerechnet jetzt? Er hat wirklich ein Gespür für den richtigen Zeitpunkt, mein lieber Bruder!«

      Eigensinnig war Nestans Beschreibung für seine Tochter. Starrköpfig nannte Isak seine Zwillingsschwester. Hitzig würden die Dienstboten vielleicht sagen und dabei die Augen verdrehen. Milla würde andere Begriffe wählen: Treu würde sie sagen. Und mutig.

      Taryas Augen waren so blau wie der allmählich dunkler werdende Himmel über ihnen. »Zum üblichen Platz, oder?«

      Milla nickte. Sie wussten beide, dass sich Isak an Bord eines Schiffes am wohlsten fühlte, oder, falls das nicht ging, am Hafen.

      »Hoffentlich schaffen wir es vor Sonnenuntergang dorthin und wieder zurück. Wenn wir zu der blöden Zeremonie des Herzogs nicht pünktlich kommen, wandern wir womöglich alle auf die schwarze Liste.«

      »Du bleibst hier«, sagte Milla schnell. »Ich geh allein. Du musst dich fertig machen. Ich habe dir das rosa Seidenkleid aufs Bett gelegt …« Bei der Vorstellung, zum Hafen hinunter- und wieder zurückzulaufen, wurde ihr schwindlig vor Erschöpfung, aber sie biss die Zähne zusammen. »Außerdem werden Patrouillen unterwegs sein und du kennst nicht alle Abkürzungen.« Milla bewegte sich in den gewundenden Straßen von Arcosi wie eine Katze, sie kannte jede Gasse und jeden geheimen Weg.

      »Nein, ich mache das!«, sagte Tarya. »Er ist schließlich mein Zwillingsbruder. Und es ist meine Familienehre, die auf dem Spiel steht. Außerdem zitterst du wie Espenlaub und hast Erbrochenes auf deiner Tunika. Bist du krank?«

      »Mir geht es gut, das ist bloß Apfelsine«, log Milla erneut. Heute Abend wollte sie auf keinen Fall zurückgelassen werden. Also richtete sie sich auf und bezwang das Zittern in ihren Beinen.

      »Na schön«, schnaufte Tarya. »Dann erzählst du mir eben nicht, was los ist! Aber lass mich wenigstens mitkommen. Mich und mein freundliches Schwert?« Mit hochgezogenen Augenbrauen klopfte sie auf den Knauf ihrer Waffe. Dank des abgebrochenen Kampfs mit Finn sprühte sie immer noch vor Energie.

      »Na schön«, sagte nun auch Milla. »Komm mit.« Sie lotste Tarya auf die Mauer des Übungsplatzes, führte sie in einem Halbkreis um das Haus herum und zeigte ihr die hervorstehenden Steine, über die sie auf die zwei Stockwerke tiefer liegende nächste Straßenebene hinunterklettern konnten. »Aber wir müssen den kürzesten Weg nehmen.«

      »Warum kenne ich diesen Geheimzugang zu unserem eigenen Haus nicht?«, fragte Tarya, die Milla hinterherkletterte.

      Normalerweise war es ein leichter Abstieg, aber Millas Beine zitterten immer noch, deshalb rutschte sie mit dem linken Fuß ab und hing nur noch an den Fingerspitzen. »Jetzt kennst du ihn. Komm, wir müssen uns beeilen.« Das letzte Stück ließ sie sich hinabfallen, kam leichtfüßig auf und hastete in eine schmale Gasse.

      Milla blieb in den dunklen Hintergassen. Ohne ihren Helm erkannte man in Tarya zu leicht die Tochter ihres Vaters. Fast die halbe Stadt hatte irgendwann für Nestan gearbeitet, und er besaß in jedem Viertel treue Freunde, die sie womöglich anhielten und fragten, warum Tarya nicht zum Palast, sondern in die entgegengesetzte Richtung lief.

      »Warte!«, sagte Milla, als sie sich der Hauptstraße näherten, die sich wie eine zusammengerollte Schlange um die Insel wand. »Hier müssen wir rüber«, erklärte sie Tarya. Milla nahm sie an der Hand und lief die breite, gepflasterte Straße entlang, wobei sie sich viel zu ungeschützt fühlte. Sie gesellten sich zu den Leuten in Festtagskleidung: Manche eilten zum Ball in den Palast hinauf, andere hinunter zum Straßenfest am Kai.

      »Alles in Ordnung. Wir haben jedes Recht, spazieren zu gehen«, sagte Tarya und reckte stolz den Kopf. »Zwei Freundinnen, die die Abendluft genießen … Was gibt es daran auszusetzen?«

      Milla warf ihrer Freundin einen Blick zu. Glaubte Tarya das wirklich? Sie sagte nichts, hoffte aber, dass sich die schöne Illusion ihrer Freundin nicht schon bald zerschlagen würde.

      Im nächsten Moment rief eine Männerstimme die Worte, vor denen Milla sich gefürchtet hatte: »Patrouille! Tretet zurück.«

      Der Lärm marschierender Stiefel hallte von den hohen Häusern auf beiden Seiten der Straße wider.

      Milla zog Tarya mit sich, drückte sich gegen eine Häuserwand und presste Arme und Beine an den Leib. Neben ihr stürzte eine junge Mutter nach vorn, um ihre kleine Tochter von der Straße zu zerren. Sie zog sie eng an die Brust und schimpfte: »Dass du mir nicht wieder wegläufst. Wenn du Soldaten siehst, bleibst du ganz dicht bei mir, verstanden?«

      Das kleine Mädchen begann laut zu weinen.

      Die Soldaten marschierten unbeirrt im selben Tempo auf sie zu, obwohl sie einen steilen Hügel bezwangen. Die Gesichter starr geradeaus gerichtet, kamen sie schweigend näher, nur das Trampeln ihrer Stiefel und das metallische Klirren ihrer Schwerter und Schilde waren zu hören. Während Milla den Soldaten entgegenstarrte, versuchte sie die Männer als Individuen zu sehen. Sie wusste, dass auch sie nur Menschen waren – dieser junge Kerl mit dem sonnenverbrannten Hals, der stämmige ältere Mann mit dem buschigen Bart –, trotzdem wirkten sie in diesem großen Pulk wie etwas anderes: etwas, das mächtiger und beängstigender war als normale Menschen.

      Die Soldaten waren nun fast gleichauf. Noch einen Moment, dann wären sie vorbei. Solange sich niemand rührte oder ihnen Grund gab –

      »Halt!«, befahl der Anführer. »Kontrollposition einnehmen.« Die Männer blieben wie angewurzelt stehen. Sie drehten sich um, traten zur Seite und blockierten die gesamte Straße. »Bürger! Zeigt eure Papiere!«

      Milla fluchte leise und flehte in einem hastigen Stoßgebet um einen Einfall. Wenn sie nicht schnell einen Ausweg fand, saßen sie in der Falle.

      Die Frau neben ihr seufzte und tastete unter ihren Umhang. »Schon wieder. Das ist das dritte Mal heute. Als hätte man auch nur für einen Fehltritt Zeit, wenn sie einen unentwegt überprüfen.«

      Die Soldaten waren wie eine menschliche Barriere, die sich die Hauptstraße entlangarbeitete, sie kontrollierten Papiere und forderten die Menschen auf, ihren Namen, ihre Adresse und ihre familiäre Herkunft nachzuweisen.

      »Was sollen wir tun? Ich habe keine Papiere mitgenommen«, zischte Tarya und umklammerte das Heft ihres Schwerts. »Ich wusste ja nicht, dass ich aus dem Haus gehen würde. Wenn sie uns jetzt verhaften, schaffe ich es nie zum Ball, und unsere Familie kommt mit Sicherheit auf die schwarze Liste.«

      »Norländer auf der schwarzen Liste? Niemals …«, sagte Milla, die sich dafür verfluchte, dass sie so hastig aufgebrochen waren. Sie vergaß ihre Papiere sonst nie.

      »Das kommt durchaus vor!«, sagte Tarya. »Die Familie meiner Freundin hat alles verloren.«

      »Lasst mich los! Lasst mich gehen! Ich habe nichts getan«, protestierte ein junger Bursche, als zwei Soldaten ihn an den Armen packten. Er war kaum älter als Isak, eine Flut dunkelbrauner Haare fiel ihm über die Augen.

      »Kein Identitätsnachweis? Das ist ein Verstoß gegen das Gesetz des Herzogs, wie Sie sehr wohl wissen, mein Herr.« Das letzte Wort betonte der Hauptmann höhnisch.

      »Ich hatte meine Papiere in der Tasche. Sie müssen herausgefallen …« Als er begriff, was das bedeutete, begann der Junge zu flehen. »Ich kann Ihnen zeigen, wo ich wohne. Sie können meine Eltern fragen! Wir können uns die Auslösegebühr nicht leisten. Bitte!«

      »Führt ihn ab!« Der Hauptmann sah nicht einmal hin, als seine Männer den Jungen fortzerrten, der sich wehrte und seine Unschuld beteuerte. Mit fordernd ausgestreckter Hand wandte er sich bereits dem nächsten verängstigten Bürger zu.

      Milla schaute an der Frau vorbei. Es waren nur noch vier Leute vor ihnen, ehe die Soldaten sie erreichten. Sie suchte in allen Richtungen nach einem Fluchtweg. Da!


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