Die Mobilitätswende. Karin Kneissl

Die Mobilitätswende - Karin Kneissl


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40 Prozent der täglichen Erdölproduktion, das waren zu Jahresbeginn noch um die 100 Millionen Fass pro Trag, gehen in die Mobilität. Was immer also in diesem Bereich passiert, wirkt sich entsprechend auf den Erdölpreis aus. Die plötzliche Wende zum Stillstand ließ folglich den Erdölpreis implodieren. Plötzlich erscheint der langfristig geplante Ausstieg aus der Produktion des Verbrennungsmotors geradezu unbedeutend für den Erdölmarkt.

      Wie geht es nun mit unserer Mobilität weiter? Die Weichen werden neu gestellt. In welche Richtung sich die bislang bekannten Trends von E-Mobilität über autonomes Fahren bis hin zu völlig neuen Technologien entwickeln, analysiert dieses Buch. Zentral in dieser Wendezeit bleiben jedenfalls die Folgen für die Automobilindustrie, eine der letzten Schlüsselindustrien in Europa, und die möglichen geopolitischen Verschiebungen infolge langanhaltender Krisen in jenen nahöstlichen Staaten, deren Einnahmen vorwiegend aus dem Export fossiler Energieträger stammen.

      Noch im Jahr 2019 wurden weltweit 80 Millionen Neuwagen verkauft. Bei einem Durchschnittspreis von 25.000 Euro entspricht dies einem Umsatz von mehr als 2.000 Milliarden Euro. Wenn es darum geht, die größte Rezession seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 zu überwinden, dann wird eine innovative Mobilität hierbei ihre Rolle spielen. Alles ist eine Frage der Sicherheit. Wenn die Menschen um ihre persönliche Zukunft aus Sorge um den Arbeitsplatz oder die Gesundheit bangen, dann werden sie kaum ein Konsumgut wie das Auto erwerben. Um den Menschen Sicherheit zu geben, lassen sich Anreize schaffen. Der koreanische Autobauer Hyundai schaffte im Windschatten der Krise 2008/9 mit der Kampagne „Sicherheit in unsicheren Zeiten“ eine Wende. Den Käufern wurden sehr lange Garantien angeboten, in der Folge sogar der Rückkauf bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten.

      Welche Strategien Regierungen wie auch die Gesellschaft zur Neugestaltung der Mobilität vorgeben, wird die Überwindung der massiven Rezession mitbestimmen. Wie schon während der Finanzkrise stehen Verstaatlichungen an. In den Krisenjahren 2008/9 wurden in den USA mehr Vermögenswerte nationalisiert als in der Sowjetunion. Wurde der US-Konzern GM damals vom offiziellen Namen „General Motors“ zwecks staatlicher Rettung zu „Government Motors“ ironisch umbenannt, so könnten diesmal Fluglinien zu Staatseigentum werden und derart ihre Verluste auf die Steuerzahler abwälzen. Die Preise für Flugtickets würde ein Verkehrsministerium festlegen, womit Fliegen wieder etwas Außergewöhnliches würde. In Österreich hätten wir bald wieder die parteipolitische Parität im Cockpit, wie dies viele Jahrzehnte der Fall war, wäre nicht der einstige „National Carrier“ in der deutschen Lufthansa-Gruppe aufgegangen. Mein Vater verließ in den späten 1960er Jahren die AUA, so der damalige Name der nationalen Fluglinie, in Richtung Jordanien. Denn während in Wien darauf geachtet wurde, dass im Fall eines SPÖ-Kapitäns der Copilot von der ÖVP war, musste man in Jordanien nur ein guter Pilot sein. Der Staat ist mit der massiven Wirtschaftskrise wieder mit voller Wucht als Akteur, als nicht immer erfolgreicher Krisenmanager und Koordinator der Rettungsgelder da. Das Primat des Staates ist die logische Folge einer solchen Ausnahmesituation. In welchem Umfang daher die Mobilitätswende auf echtem Wettbewerb und nicht auf staatlich verordnetem Forschungsergebnis fußt, wird Folge der weiteren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen sein.

      Werden wir vor dieser veränderten Gemengelage, die sich wohl nicht mit Gelddrucken beruhigen lässt, die Klimaziele des von der Europäischen Kommission verordneten Green Deals weiter verfolgen? Demzufolge sollen die Treibhausgasemissionen des Verkehrssektors bis 2050 um 90 Prozent sinken. Oder werden sich viele Regierungen gezwungen sehen, andere Prioritäten zu setzen, um soziale Revolten zu verhindern? Werden die Menschen infolge von Massenarmut ihr altes Dieselfahrzeug so lange wie nur möglich weiterbenützen, anstatt Carsharing zu betreiben, das in Zeiten hoher Infektionsgefahr ohnehin obsolet wurde? Und wird das Geld der öffentlichen Hand reichen, um das Schienennetz auch in Europa endlich zu verbessern? Oder überlassen wir die Innovation aller Infrastruktur China, das über die Belt and Road Initiative BRI ohnehin die wesentlichen alten und neuen Verkehrswege zu Lande und zu Wasser ausbaut?

      Der gesamte Sektor Mobilität wird mit der Covid-Epochenwende neu zu definieren sein. Die Weichen stellen Regierungen, Firmen und die Wissenschaft; vor allem aber Menschen, die sich die Lust am Reisen nicht nehmen lassen. Der Handel wird möglicherweise Lieferketten neu gestalten, einst ausgelagerte Betriebsstätten wieder „heimholen“, also Backshoring statt Offshoring. Die Verwundbarkeit unserer global organisierten Lieferketten, ob für die Nahrungsmittelherstellung oder den Zusammenbau eines Küchenmöbels, ist hinlänglich bekannt. Handlungsbedarf besteht schon lange, manches ist auch bereits geschehen. Eine Regionalisierung oder gar Lokalisierung, ob in der Landwirtschaft oder auch in der Produktion von Pharmaprodukten, wird nun angesichts dieser spürbaren Verwundbarkeit des Frachtverkehrs allen niedrigen Transportkosten zum Trotz beginnen.

      Das Leben wird, selbst wenn es am Ende wieder zu einer Normalität zurückkehrt, auf andere Weise normal sein. Wir werden gelernt haben, ein weit zerbrechlicheres Leben mit ständigen Bedrohungen zu führen. Genau das haben frühere Generationen nämlich auch gelebt. Wir durften in bestimmten Weltregionen, wie Teilen Westeuropas, die Illusion der Vollkaskomentalität eine Weile leben. Doch nun müssen wir uns eingestehen: Ein Virus taucht auf, durchwirbelt alles und wir haben die Kontrolle über unseren Bewegungsradius verloren. Fast vorbildlich halten sich Menschen vielerorts an die Quarantäne und üben sich im Distanzhalten. Wo der Bürgersinn endet und die Untertanenhaltung beginnt, beschäftigte mich persönlich vom Anbeginn der sogenannten „Maßnahmen“, wobei Verordnungen in einigen Punkten die Gesetze überschritten und damit verletzten. Die Mobilität in Form des Rechts auf Versammlungsfreiheit ist seit 1867 in den Staatsgrundgesetzen normiert, wurde aber zu den Iden des März 2020 kurzerhand eingeschränkt.

      In den kommenden Kapiteln, die jeweils in sich abgeschlossen sind, wird die Geschichte unserer Mobilität nachgezeichnet und es werden Ausblicke auf die Folgen der vielen noch möglichen Formen einer Mobilitätswende unternommen. Der Mensch ist nicht für den Stillstand gemacht, sondern sucht die Bewegung. Eine neue Zeit für den Transport von Menschen und Waren sowie für das Reisen schlechthin nimmt ihren Anfang.

      Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: schnellere Pferde.

       (Henry Ford, Geschäftsmann und Erfinder)

      Die europäische Integration ist unser Ziel, und wo die Politiker versagten, werden wir Industriellen erfolgreich sein.

       (Giovanni Agnelli)

      1. KAPITEL:

       WENN AUTOFABRIKEN ZU MUSEEN WERDEN

      Turin – die Zeitenwende – vom Erfinderreichtum zum Stillstand in Deutschland – Detroit und die Risiken für Bratislava. Europas Niedergang und Chinas Aufstieg – die Rolle Afrikas als neue globale Produktionsstätte. Ein historischer Rückblick auf Erreichtes, wir leben noch vom Erfindergeist ante 1914. Ein kritischer Ausblick auf den Stillstand in der europäischen Automobilindustrie, die Folgen für die Zulieferer, mögliche Massenarbeitslosigkeit in diesem Sektor.

      Die größte und modernste Autofabrik der Welt befand sich vor dem Ersten Weltkrieg in Turin, der einstigen Residenzstadt der italienischen Könige. Die Mitbegründer der Fiat-Werke, die Industriellenfamilie Agnelli, sollten im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer Art republikanischen Königsfamilie in Italien aufsteigen. Begründet wurde das Industrieimperium von Giovanni Agnelli (1866–1945), der im Jahr 1899 die „Società Italiana per la Costruzione e il Commercio delle Automobili Torino“, aus der später die „Fabbrica Italiana di Automobili Torino“, weltweit als Fiat bekannt, hervorging. Turin und Fiat sind eng mit dem italienischen Wirtschaftswunder verbunden. Doch mit dem Abzug der Industrie nach Süditalien und Osteuropa begann sich auch die Stadt zu entleeren, so fiel die Bevölkerung seit den 1980er-Jahren um rund ein Drittel auf unter eine Million Menschen.

      Vom Piemont und Turin hatte die Einigungsbewegung Italiens zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihren Anfang genommen. Italien sei nur ein geographischer Begriff, soll der österreichische Staatskanzler Klemens Metternich einst abschätzig über das Land gesagt haben. Die italienischen Nationalisten mit ihrer offenen Rebellion gegen die Herrschaft der Habsburger bereiteten


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