Eine Geschichte des Krieges. Группа авторов

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Gesellschaften und die häufig einschneidendste Erfahrung im Leben von Menschen zu studieren. Der Krieg ordnet die Machthierarchien zwischen den Ländern neu – wie der Aufschwung der Vereinigten Staaten während des Ersten Weltkrieges zeigt – und bekräftigt die hoheitlichen Funktionen der Staaten; er verändert die Geschlechterverhältnisse und beschleunigt sozialen Wandel (um nur ein Beispiel zu nennen: die Einrichtung des Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg). Der Krieg zerstört Landschaften, hinterlässt seine Spuren auf Körpern und Seelen, bürdet den Älteren die Trauer über die Jüngeren auf, bringt neue Gedenkrituale hervor und produziert Traumata, die über mehrere Generationen fortwirken können.

      Wir wollten diese Geschichte des Krieges vom 19. Jahrhundert bis in die heutige Zeit auf globaler Ebene darstellen, zumindest soweit das beim gegenwärtigen Wissensstand möglich ist. Seit den 1970er Jahren, insbesondere seit dem Erscheinen des Hauptwerkes des britischen Historikers John Keegan, Das Antlitz des Krieges, haben sich die Fragestellungen und die Art, die Geschichte des Krieges zu verstehen und zu schreiben, grundlegend geändert. Die traditionelle Geschichte der Strategen, Staatsmänner und Diplomaten ist durch eine Sozial- und Kulturgeschichte der einfachen Soldat*innen, dann auch der Zivilist*innen (besonders der Frauen) und schließlich durch eine Geschichte dessen erweitert worden, was Kombattant*innen und Nichtkombattant*innen verbindet und was man »Kriegskulturen« nennt, oder anders gesagt die Repräsentationssysteme, die den Konflikten ihre eigentliche Bedeutung geben. Die Schlacht selbst, dieser Fetisch der Militärgeschichte, wird mit dem frischen Blick der historischen Anthropologie erkundet. Im Zentrum steht der Kampf, also das Aufeinanderprallen der Körper, das Lärmen der Waffen, die Versehrungen und die Toten, aber auch das ganze feine Spektrum der mit dem Krieg verbundenen physischen Empfindungen und Emotionen. Im Gefolge der Körper- und Medizingeschichte, der Geschlechtergeschichte, der Kunstgeschichte und Umweltgeschichte erfindet sich die Kriegsgeschichtsschreibung immer wieder neu, wobei die Wege, die sie beschreitet, stark von den nationalen historiografischen Traditionen abhängen. Mit ihren 57 Autor*innen aus Europa und Nordamerika, Historiker*innen, Anthropolog*innen, Kunsthistoriker*innen, Soziolog*innen und Politikwissenschaftler*innen aus verschiedenen Traditionen und Generationen, bietet diese Sammlung ein reiches Panorama. Selten dürfte ein einzelnes Werk eine solche Vielfalt an Perspektiven versammelt haben.

      Es bleibt allerdings ein Hindernis, mit dem sich jede Geschichte des Phänomens Krieg konfrontiert sieht. Im Unterschied beispielsweise zur Wirtschafts- oder Umweltgeschichte konnte sich die Militärgeschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts kaum aus der Nationalgeschichtsschreibung und dem westlichen Rahmen lösen. Der Grund hängt mit der sozialen Funktion zusammen, die sie zu dieser Zeit hatte, nämlich das Gedenken an Schlachten wachzuhalten, aus denen sich der Ruhm eines Landes speiste. Zu lange hat sich die Erforschung der Konflikte auf den Westen und seine Kolonialgebiete im Rest der Welt beschränkt – am häufigsten übrigens mit der Idee, die Überlegenheit eines »westlichen Modells des Krieges«2 zu demonstrieren, dessen Anfänge der Altertumsforscher Victor Davis Hanson umstandslos in der griechischen Antike ansetzt, um es schließlich in die Konflikte der Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert münden zu lassen. In der jüngeren Vergangenheit beschränkt sich die Sozial- und Kulturgeschichte des Krieges im Allgemeinen auf die westlichen Länder und ignoriert die Wechselwirkungen auf globaler Ebene, selbst wenn sie sich über die Erforschung der Kolonialkonflikte gelegentlich anderen Horizonten nähert und Begegnungen und Transfers Rechnung trägt. Die Abfassung einer Globalgeschichte oder besser einer verschränkten oder transnationalen Geschichte des Krieges wird noch Zeit brauchen. Wir haben uns dennoch bemüht, mit der strikt westlichen Lesart zu brechen, und zahlreichen anderen geografischen Räumen und kulturellen Feldern Platz eingeräumt.

      Einige Grundprinzipien – Durchlässigkeit zwischen Militärgeschichte und anderen Ansätzen, zwischen dem Westen und dem Rest der Welt, zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert – bildeten den Hintergrund für die Themenzusammenstellung. Das Inhaltsverzeichnis ist in vier Teile gegliedert: 1) Der moderne Krieg, 2) Soldatische Welten, 3) Kriegserfahrungen, 4) Der Kriegsausgang. Jeder dieser Teile beginnt mit einem einführenden Text, der die Chronologie und die Relevanz der Frage erörtert und je von einem Historiker stammt, der einen wichtigen Beitrag zu dem Forschungsfeld geleistet hat. Die Aufsätze selbst hatten nur eine Vorgabe: Schwerpunktthemen aus der Perspektive der longue durée darzustellen, wobei versucht werden sollte, die unterschiedlichen Facetten auf Grundlage verschiedener Konflikte und verschiedener Räume zu beschreiben. Bei ihrer Mitwirkung an diesem Projekt haben sich die Autor*innen dazu bereit erklärt, gelegentlich weit von der Zeit oder dem Gebiet, auf das sie sich spezialisiert haben, abzuschweifen. Dafür sei ihnen gedankt.

      Und da wir uns für eine thematische Gliederung entschieden haben, wollen wir hier als Auftakt versuchen, die Entwicklung des modernen Krieges in seinem geopolitischen Kontext zu skizzieren und in groben Zügen den Bogen der Gewalt nachzuzeichnen, der sich von den großen Schlachten der Revolution und des Kaiserreichs über die hier abgedeckte Periode von zweieinhalb Jahrhunderten bis in unsere Zeit zieht.

      

      Am 22. Mai 1790 verabschiedete die Verfassunggebende Nationalversammlung Frankreichs die »Friedenserklärung an die Welt«, wie es in der berühmten Formulierung heißt. In den darauffolgenden fünfundzwanzig Jahren versank, von kurzen Ausnahmen abgesehen, ganz Europa in einem endlosen Krieg. Der »erste totale Krieg«3, wie ihn der Historiker David Bell nennt, war von zweierlei geprägt: von einer Intensivierung der Gewalt – davon zeugen der Bürgerkrieg in Vendée von 1793 bis 1796 und der Spanische Unabhängigkeitskrieg von 1808 bis 1814 – und von einer Mobilisierung der gesamten Gesellschaft. Damit trat eine dem aristokratischen Modell entgegengesetzte Kriegskultur zutage, die sich vielmehr den Kampf gegen die Tyrannen (»Ein Kreuzzug für die allgemeine Freiheit«, wie es der girondistische Abgeordnete Brissot ausdrückte) und den Krieg der Nationen auf die Fahnen schrieb. Diese Kriegskultur war es, die Condorcet in seiner Ansprache an die Völker Europas vom 29. Dezember 1791 verteidigte. Das Schlagwort vom »letzten Krieg«, der die Nation durch das Blut neu beleben und der Gewalt ein Ende setzen würde, indem er die Feinde der Freiheit vernichtete, diente ihm als letzte Rechtfertigung. Carl von Clausewitz schrieb 1812 dazu:

      »Ehemals […] schlug [man] sich mit Mäßigung und Rücksichtlichkeit nach hergebrachten Konvenienzen. […] Von diesem Krieg ist jetzt nicht mehr die Rede, und der müßte wohl blind sein, der den Unterschied unserer Kriege, d. h. der Kriege, wie sie unser Zeitalter und unsere Verhältnisse fordern […], nicht erkennen könnte. Der Krieg der jetzigen Zeit ist ein Krieg aller gegen alle. Nicht der König bekriegt den König, nicht eine Armee die andere, sondern ein Volk das andere, und im Volk sind König und Heer enthalten.«4

      Der Waffenruhm, der Heldenkult: Die männlich-militärischen Werte, die sich gleichzeitig auf beiden Seiten des Atlantiks entwickelten, fanden in den berühmten Figuren Washingtons und Bonapartes ihre Verkörperung. Ohne Krieg keine amerikanische Unabhängigkeit und kein napoleonisches Heldenepos. Zwischen 1805 und 1815 wurden fast 2 Millionen französische Wehrpflichtige einberufen – eine Zahl, die zur damaligen Zeit als außerordentlich angesehen wurde. Dennoch umfasste 1813 die umfangreichste Truppenaushebung lediglich 3 Prozent der Bevölkerung (ein Siebtel der Mobilmachung vom Sommer 1914). Zu den französischen Soldaten kamen Tausende ausländische Soldaten hinzu: Ägypter und Griechen des orientalischen Jägerbataillons, die unter dem Konsulat rekrutierten Schweizer und irischen Bataillone, in den besetzten Ländern ausgehobene portugiesische und spanische Kämpfer und die Kontingente der Fürstentümer des Rheinbunds, der italienischen Königreiche, des Königreichs Holland und Polens, die als Verbündete kämpften. Nach seiner Niederlage in der Seeschlacht von Trafalgar am 21. Oktober 1805 musste Napoleon seine Eroberungspläne für Großbritannien begraben und setzte sich stattdessen zum Ziel, »das Meer durch die Macht des Landes [zu] besiegen«5, wie es im Berliner Dekret vom 21. November 1806 heißt. Mit diesem trat die Kontinentalsperre in Kraft, die eine geografische Ausweitung des Konflikts herbeiführte, um die europäischen Küsten zu kontrollieren und den englischen Schmuggel zu unterbinden. 1811 umfasste das napoleonische Reich halb Europa.

      Die Schlachten nahmen gigantische Ausmaße an: 300 000 Soldaten bei Wagram (5. und 6. Juli 1809), 500 000 bei Leipzig (16. bis 19. Oktober 1813). 1812 fiel Napoleon mit den 650 000 Mann der »Armee der Nationen« in Russland ein. Um einen Eindruck dieser


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