Eine Geschichte des Krieges. Группа авторов

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gefunden hatten, aus einem Massengrab exhumiert wurden. Manche von ihnen kamen aus Frankreich, andere aus Italien, Deutschland oder Polen. Sie waren auf dem Antakalnis-Friedhof von Vilnius in Gegenwart französischer und litauischer Repräsentanten beigesetzt worden. Welcher Blutzoll in den Kriegen des Kaiserreichs entrichtet werden musste, lässt sich nach wie vor schwer bestimmen. Davon hängt aber bis zu einem gewissen Grad ab, wie weitgehend der Bruch war, den diese Kriege bedeuteten. Ungefähr 700 000 Franzosen und zwischen 2,5 und 3,5 Millionen Menschen europaweit verloren zwischen 1805 und 1815 ihr Leben in der Schlacht, durch Verwundung oder infolge von Epidemien.

      Auf dem Wiener Kongress (September 1814 bis Juni 1815) zog die Heilige Allianz, die gerade Napoleon besiegt hatte, die Grenzen in Europa neu. Das veränderte Gleichgewicht auf dem Kontinent stärkte das monarchische Prinzip gegenüber dem Nationalitätenprinzip. Dennoch waren es die nationalen Befreiungsbewegungen, die über mehrere Jahrzehnte als die andere große Triebkraft für den Krieg in dieser Epoche wirksam wurden. Am Anfang standen Nationalbewusstsein und das politische Prinzip des Nationalismus. Dieses Wort kam Ende des 18. Jahrhunderts auf und bezeichnete ursprünglich noch die Forderung nach dem Recht, eine Nation zu bilden, bis es ab den 1870er Jahren die chauvinistische und xenophobe Bedeutung annahm, in der wir es heute kennen. Die Einigungskriege in Italien (1848–1849, 1859, 1866) und Deutschland (1866, 1870–1871) waren von der früheren Definition des Nationalismus inspiriert; ebenso die der »Orientalischen Frage« zugeschriebenen Konflikte, die das ganze 19. Jahrhundert prägten, angefangen bei dem von Miloš Obrenović angeführten serbischen Aufstand von 1815 über den von der philhellenischen Bewegung unterstützten griechischen Unabhängigkeitskrieg (1821–1830) bis zur Balkankrise der 1870er Jahre. Trotz der Abfolge von Einigungs- und Unabhängigkeitskriegen dürfen wir nicht die Haupttendenz aus den Augen verlieren: Nach der besonders mörderischen Zeit der Revolution und des napoleonischen Kaiserreichs war die Periode von 1815 bis 1914 in Europa durch einen Rückgang der durch Krieg verursachten Tode geprägt. Ausnahmen bildeten lediglich der Krimkrieg (1853–1856), die Schlacht von Solferino (24. Juni 1859), durch deren katastrophale medizinische Versorgung sich Henry Dunant 1863 zur Gründung des Roten Kreuzes veranlasst sah, sowie der Deutsch-Französische Krieg (1870–1871). Es genügt ein Blick auf andere Kontinente, wozu dieses Buch auch einlädt, um zu sehen, dass Europa eine Zeit relativer Ruhe erlebte: 1851 brach in China der Taiping-Aufstand aus, für dessen Niederschlagung die Qing-Dynastie fast 15 Jahre benötigte. Dieser Bürgerkrieg forderte zwischen 20 und 30 Millionen Tote, also zwei- bis dreimal so viele wie der Erste Weltkrieg! Auch wenn der Amerikanische Bürgerkrieg (1861–1865) nicht dieses tatsächlich außergewöhnliche Ausmaß an Verlusten erreichte, brachte er mit seinen nach jüngsten Schätzungen 750 000 getöteten Soldaten doch die Erfahrung des Massentods in die Vereinigten Staaten.

      1815 hatten die europäischen Großmächte nicht so sehr Frieden geschaffen als vielmehr den Krieg nach Übersee verlagert. Im Gegensatz zu Lenins Deutung in Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917) scheinen die Kolonialkriege weniger durch ökonomische Interessen als durch politische Ambitionen und Rivalitäten unter den europäischen Nationen motiviert gewesen zu sein. Als »wahrhaft globale Thalassokratie«6, wie es der Historiker Daniel Headrick genannt hat, eroberte Großbritannien ein gigantisches Weltreich, dessen Gravitationszentrum sich, wie das des europäischen Kolonialismus insgesamt, nach dem Verlust seiner dreizehn nordamerikanischen Kolonien (1783), der Abschaffung des Sklavenhandels (1807) und der Sklaverei (1833) allmählich von Amerika nach Asien und Afrika verschob. Im Ersten Opiumkrieg 1839–1842 setzte es die Öffnung Chinas für den Welthandel durch. Die Europäer teilten sich den afrikanischen Kontinent in weniger als dreißig Jahren (1885–1914) auf. Es herrschte das Prinzip der präventiven Kolonialisierung vor, noch verschärft durch die imperialen Rivalitäten und den Nationalismus: Es galt, ein Territorium zu kolonialisieren, bevor ein anderes Land dies tat. Den alten Kolonialmächten wie Frankreich, Spanien, den Niederlanden, Portugal oder Großbritannien traten nach 1870 Deutschland, Italien und Belgien zur Seite, sodass es bald zu einer Verknappung an noch kolonialisierbaren Gebieten kam. Russland hatte sein ungeheures Kolonialreich bis zu den Grenzen Sibiriens, nach Zentralasien und in den Kaukasus ausgedehnt. Die Vereinigten Staaten gingen ab den 1860er Jahren an die Eroberung des Westens und der Great Plains: Die Navajo streckten 1864 die Waffen und die Apachen 1886 nach der Kapitulation Geronimos. Angeführt von Sitting Bull, errangen die Sioux und die Cheyenne in Montana den großen Sieg von Little Bighorn (25. – 26. Juni 1876), bevor sie sich ab 1881 in die Reservate von North Dakota gesperrt fanden. Die Vereinigten Staaten wandten sich im Namen der »Manifest Destiny«-Doktrin dem Pazifik zu: Die Geburtsstunde des amerikanischen Imperialismus ist der Militäreinsatz von 1898 auf den Philippinen, mehr als 11 000 Kilometer von der kalifornischen Küste entfernt, mit dem Ziel der Inbesitznahme eines Territoriums, das mehr als drei Jahrhunderte unter spanischer Herrschaft gestanden hatte. »Der Pazifik ist unser Ozean«, erklärte im Jahr 1900 der republikanische Senator von Indiana, Albert J. Beveridge.

      Die fernen Kriege faszinierten durch die Landschaften, die sie dem Auge boten, durch die ostentative Potenz, die sie zum Ausdruck brachten, und durch die Gelegenheit, damit der schmerzlichen Frustration eines Europas zu entkommen, dem es am Heldenepos fehlte. »Kriegssehnsucht« war es, was die Philhellenen dazu brachte, freiwillig am griechischen Unabhängigkeitskrieg der 1820er Jahre teilzunehmen. »Uns fehlten die Freuden des Kriegers; kein Kreuzzug blieb uns noch zu unternehmen; die Zeit der napoleonischen Erfahrungen war vorüber«, bekannte der 1804 geborene Gustave d’Eichenthal, Gründer der ethnologischen Gesellschaft und wichtige Figur in der saint-simonistischen Bewegung. »Wir hatten keine Feiern, keine Tempel, keine Turniere, keine Gesänge, keine Feste mehr. Das Leben war glanzlos und monoton, und Gott hatte vielen Menschen eine Energie ins Herz gegeben, die diese Einengung nicht ertrug.« 1895 war es immer noch eine Art Kriegsinitiation, die der junge Winston Churchill im Alter von einundzwanzig Jahren im kubanischen Unabhängigkeitskrieg suchte, in dem er beinahe sein Leben ließ. Die Abenteuerlust, der auf der Überzeugung einer Rassenhierarchie gründende Glaube an die »zivilisatorische Mission« des Westens, die Anziehungskraft des Geldes bewegten ebenso sehr zur Teilnahme an den Kolonialkonflikten. Allerdings erfuhren diese Motive eine gewisse Geringschätzung seitens der meisten eingesessenen Militärstrategen. In seinen Principes de la guerre aus dem Jahr 1903 geht Foch kurz auf die fernen Expeditionen »gegen die schwarze Bevölkerung Afrikas und die gelben Rassen Asiens«7 ein. Als Experimentierfeld für extreme Gewalt – von der durch Bugeaud und Cavaignac in Algerien 1844–1845 praktizierten Ausräucherung bis zur brutalen Niederschlagung des Sepoy-Aufstands durch die Briten 1857–1858 oder zum Völkermord an den Hereros und Namas in Deutsch-Südwestafrika 1904 und 1908 – rief der Kolonialkrieg schließlich zunehmend Ablehnung in der Öffentlichkeit hervor. Neben einer Bezeugung der Gräuel, die unter Leopold II. im Kongo begangen wurden, bringt Joseph Conrads Novelle Heart of Darkness, die 1899 im Blackwood’s Edinburgh Magazine in Fortsetzung und dann 1902 gesammelt erschien, auf eindringlichste Weise dieses Umkippen der öffentlichen Meinung zum Ausdruck.8

      

      Im Übergang zum 20. Jahrhundert trat der Krieg in eine neue Phase ein. Diese war geprägt von einer noch stärkeren Vermassung der Armeen, einer klareren Ideologisierung der Soldaten und einer beispiellosen Zerstörungskraft. Militärische Berater wurden zu fernen Kriegen entsandt, um die Umsetzung taktischer und strategischer Modelle zu beobachten, ohne dass immer eindeutige Lehren für zukünftige Konflikte daraus gezogen werden konnten. Als im Februar 1904 der Russisch-Japanische Krieg ausbrach, nahm John Pershing, der nach Befriedungskampagnen gegen die Krieger der Moros auf den Philippinen (1899–1901) als amerikanischer Militärattaché in Tokio tätig war, an einer amerikanischen Beobachtermission teil; auch von russischer Seite waren vier Beobachter entsandt worden. »Die Regeln der Kriegführung haben keine bedeutsame Modifikation in ihrer Anwendung erfahren«, resümierte einer der Amerikaner, der weder die Fortschritte der Artillerie noch die Entwicklung der Gräben, noch den massiven Einsatz von Granaten für bemerkenswert hielt. Scharfsichtiger schloss der britische Militärattaché Ian Hamilton auf die Überlegenheit des Positionskrieges: Zehn Jahre später war er als Oberbefehlshaber für die desaströse Offensive der Alliierten 1915 bei Gallipoli verantwortlich, die seiner militärischen Karriere ein Ende setzte. Ein Ereignis wie die Niederlage der russischen Flotte im Kampf gegen die Japaner bei Tsushima (27. und 28. Mai 1905) hatte wie kaum eine Schlacht


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