Gleichwertige Lebensverhältnisse - Vision oder Illusion. Группа авторов
für andere zu übernehmen. Damit es zum Ausbau einer leistungsfähigen Infrastruktur kommen konnte, reichte die objektive Notwendigkeit offenkundig nicht aus. Es musste eine weitere Bedingung hinzutreten: Das Wahlrecht für breite Schichten der Bevölkerung. Erst die Verschiebung der politischen Machtverhältnisse, wie sie die Wahlrechtsreform seit 1867 erbrachte, führte dazu, dass zunächst London Ver- und Entsorgungseinrichtungen in öffentlicher Verantwortung baute (Deaton 2017, 130 ff.).
Die Stärkung demokratischer Mitwirkungsrechte in England hat den flächendeckenden Ausbau einer Versorgungsinfrastruktur seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mindestens beschleunigt, wenn nicht erst ermöglicht (zu „öffentlichen Gütern“ siehe den Beitrag von Bieling/Möhring-Hesse in diesem Heft). Es handelt sich dabei um solche Leistungen, die Egon Forsthoff 1931 mit dem heute altbacken klingenden Begriff „Daseinsvorsorge“ belegt hat – Strom, Post, Telekommunikation, Wasser, Abwasser, Müllentsorgung, Verkehr. Sie sind zur Bewältigung des Alltags unverzichtbar und sollen daher jedem zur Verfügung stehen, unabhängig von der finanziellen Leistungsfähigkeit des einzelnen Nutzers. Das bedeutet, dass für diese Güter die Rationierungsfunktion des Preises außer Kraft gesetzt werden sollte.
Damit es unter diesen Bedingungen überhaupt zu einem Angebot kommt, muss der Staat als Leistungserbringer einspringen. Gleichzeitig fungiert er als Agentur, die über demokratische Wahlen die Interessen zwischen Nutznießern dieser Güter und den Geldgebern dafür ausgleicht. Damit entscheidet der Wahlakt nicht nur über die Verteilung und Zuteilung politischer Macht, sondern in der „mixed economy“ auch über die Verteilung der ökonomischen Macht und zähmt so die unbändigen Kräfte des Kapitalismus in einem sozial ausgleichenden Sinne.
In Großbritannien erreichte diese Entwicklung unter der Labour-Regierung 1945–1951 ihren Höhe- und Wendepunkt. Diese verstaatlichte zahlreiche Schlüsselindustrien (Kohle, Eisen und Stahl) und Versorgungsbereiche (Bahn, Strom, Gas, Radio, Fernsehen) und baute zudem den Sozialstaat mit dem National Health Service als Herzstück entschlossen aus. Dabei war es das erklärte Ziel, die Macht des Kapitals durch „an increase in the economic power of the state“ einzuhegen (Crosland 1957, 30). Die Verstaatlichung nach dem Zweiten Weltkrieg unter Labour diente also gleichzeitig einem ökonomischen, sozialen und demokratischen Zweck.
Nachdem die konservative Partei diese Politik zunächst mittrug („postwar consensus“), nahm sie Mitte der 1970er Jahre unter der neuen Vorsitzenden Margaret Thatcher einen entschiedenen Politikwechsel vor. Nach dem Wahlsieg 1979 zielte der „Thatcherismus“ darauf, die Rolle des Staates in der Wirtschaft zurückzudrängen („Rolling back the frontiers of the
Die Gleichung „Jeder Dollar ein Wahlzettel“ war ein Scheinangebot
state“). Dabei setzte er zugleich auf die Machtmittel eines starken Staats, um diesen Kurs durchzusetzen und die Wirtschaft vor den als ungerechtfertigt eingestuften Forderungen der Gesellschaft zu schützen. Im mit großer Härte ausgetragenen Streik der Bergarbeiter 1984/85 wurde das deutlich. Thatcher war der Überzeugung, dass der Markt für nahezu jedes Problem die beste Lösung hervorbringen würde, sofern man seinen Kräften freien Lauf ließe. So war es der Dreiklang aus Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung, der die Wirtschaftspolitik der 1980er Jahre bestimmte.
Ein argumentatives Problem aber gab es zu lösen. Wie sollte man das Wahlvolk dazu bringen, für dieses Programm zu stimmen, wenn es den Verlust demokratischer Mitbestimmungsrechte zur Folge haben würde, wenn vormals in öffentlichem Eigentum befindliche Güter in die Hände Privater übergingen? Dazu bediente sich der Thatcherismus einer Argumentation, wie sie in den 1930er Jahren von Ökonomen um Friedrich von Hayek, Ludwig von Mises und Wilhelm Röpke aus der so genannten Genfer Schule entwickelt worden war. Diese „Globalisten“ erklärten, der Gedanke von Demokratie und Freiheit sei am besten verwirklicht, wenn aus „jedem Dollar ein Wahlzettel“ (zit. n. Slobodian 2019, 253) werde, denn, so Buchanan, „a dollar vote is never overruled“ (zit. n. Biebricher 2018, 99). Die Idee, die dahinter steckt und unter dem Begriff „consumerism“ Karriere machte, ist die folgende: In einer staatlich gelenkten Wirtschaft mit staatlichen Monopolbetrieben kann das Wahlvolk einmal in einem Zeitraum von vier bis fünf Jahren über die Teilnahme an der Wahl zum Unterhaus oder zum Local Council sein Urteil darüber fällen, wie er die Summe aller öffentlichen Leistungen insgesamt beurteilt. Es liegt auf der Hand, dass sich bei diesem Entscheidungsmodus nur wenig ändern lässt, wenn man unzufrieden ist. Wie anders sind die Möglichkeiten in einem wettbewerblich organisierten Markt mit vielen miteinander konkurrierenden Privatunternehmen. Die Wahlberechtigten können nun zwischen einer Vielzahl verschiedener Angebote auswählen und sich je nach Präferenz für eine gute Qualität zu einem höheren oder eine geringere Qualität zu einem günstigeren Preis entscheiden, und zwar jeden Tag. Schlechte und zu teure Anbieter würden so vom Markt verschwinden. Auf diese Weise werde der „Geldschein“ zum „Wahlzettel“ für gute und preisgünstige Angebote. Das sei nicht nur „demokratischer“ als die alte Staatswirtschaft, sondern auch effizienter.
Weil das so gut klang, wurde der Wettbewerb schrittweise auch auf Bereiche übertragen, die zwar nicht oder nur partiell am Marktgeschehen teilnahmen, aber miteinander konkurrieren sollten: Universitäten, Schulen oder das Sozial- und Gesundheitswesen. Diese mussten nun in den Wettbewerb zum Beispiel um Projektmittel treten. Benchmarks und Leistungsmessungen sollten den „Kunden“ – Studierende, Eltern oder Kranke – den Vergleich von Schulen, Universitäten oder Krankenhäusern ermöglichen und sie damit in die Lage versetzen, die „guten“ von den „schlechten“ Anbietern zu unterscheiden. Einrichtungen, die ihre „Kunden“ und damit ihre Finanzierungsgrundlage nicht verlieren wollten, mussten sich im Wettbewerb bewähren. So sollte alles besser und billiger werden.
Es lag in der Absicht dieser Politik, für nahezu jedes auftretende politische, gesellschaftliche oder ökonomische Problem den Marktmechanismus die Lösung finden zu lassen und so eine wohlhabendere, effizientere und gerechtere Welt zu schaffen. Das ist nicht gelungen.
„Jeder Dollar ein Wahlzettel“
Die Gleichung „Jeder Dollar ein Wahlzettel“ war ein Scheinangebot. Tatsächlich ging es den Theoretikern der Genfer Schule nicht darum, die Partizipation des Volkes zu stärken. Im Gegenteil sollte die Wirtschaft von den Einflüssen des „demos“ möglichst weitgehend abgeschirmt werden (Slobodian 2019; Biebricher 2018): „Entdemokratisierung des Kapitalismus vermittels Entökonomisierung der Demokratie“ (Streeck 2013, 28).
Die Gleichung „Jeder Dollar ein Wahlzettel“ ging insofern auf eine ganz andere Weise auf, als man unter dem Schlachtruf „consumerism“ hatte vermuten können. Nicht die politische Partizipation breiter Bevölkerungsschichten wuchs, sondern die politische Macht stieg mit der Menge an Dollars an, über die jemand verfügen konnte (Stiglitz 2012). Der Glaube an dieses Demokratiemodell führte direkt in die „Krise des demokratischen Kapitalismus“ (Streeck 2013).
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Bergarbeiterstreik 1984 in der Nähe von Sheffield
Bei all dem stellt sich allerdings die Frage, warum die politische Linke dieser Politik nichts entgegensetzte. Doch Clinton, Obama, Blair, Schröder und Co. steuerten nach dem scheinbaren Sieg des Westens über den Kommunismus einen Kurs „Jenseits von links und rechts“ (Anthony Giddens), betont wirtschaftsfreundlich und scheinbar unideologisch, gleich so, als gebe es zur aufsteigenden globalen liberalen Weltordnung keine Alternative. Diese Fehleinschätzung steht an der Wiege der weltweiten Krise der Sozialdemokratie im neuen Millenium.
Denn „das grundlegende politische Trilemma der Weltwirtschaft“ war nicht zu überwinden. „Wir können die drei Dinge Demokratie, nationale Selbstbestimmung und wirtschaftliche Globalisierung nicht