Das Alphabet der Kindheit. Helge-Ulrike Hyams

Das Alphabet der Kindheit - Helge-Ulrike Hyams


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unbeeinflusst von gesellschaftlichen Konventionen. Konventionen, die uns schon früh diktieren wollen, was man fragen darf und vor allem was nicht. Kinder fragen normalerweise unverblümt, direkt: »Oma, wann stirbst du? Warum hast du keinen Mann? Warum sieht die Frau so komisch aus?« Sie haben ein brennendes Interesse, auf diese sehr persönlichen, körpernahen Dinge eine Antwort zu bekommen. Die Zeitangabe »irgendwann« – bezogen auf den Tod der Oma – sagt ihnen gar nichts.

      Schnell fahren wir Erwachsenen ihnen über den Mund: »Das fragt man nicht!« Dieser Satz sitzt. Viele Kinder werden durch diesen Satz nachhaltig geprägt. Sie stellen nur noch brave und angepasste Fragen über irgendwelche Sachverhalte oder Funktionsweisen der Dinge. Das Brennende, das Aufwühlende, das dem wirklichen Erkenntnisinteresse des Kindes zugrunde liegt, verschwindet.

      Wir Erwachsenen haben es am eigenen Leib erlebt. Ich erinnere mich haarscharf an die Fragen meiner Kindheit und Jugend. Und ich erinnere mich genau, wie unsere Erzieher antworteten. Mit zehn wollte ich wissen, wie Kinder gemacht werden. Als Antwort schenkte man mir eine Babypuppe. Als wir dreizehn-/vierzehnjährig, aufgeweckt durch die Lektüre von Anne Franks Tagebuch, unsere ersten Fragen über den Holocaust stellten (wir benutzten damals dieses Wort noch nicht), wurden die Gesichter der Mütter blass und die Lehrer wandten sich ab. Alle Fragen gingen ins Leere – ins peinliche Niemandsland. Die Erwachsenen ließen uns mit unseren Fragen, mit unseren kleinen Körpern und unseren großen Fantasien vom Krieg allein. Dieses Schweigen, dieser kollektive Entschluss, auf die Fragen der Folgegeneration nicht zu antworten, war eine der schwersten Hypotheken für die Nachkriegsgeneration. Die tatsächliche gesellschaftliche Sprengkraft der Studentenbewegung lag nicht zuletzt darin, dass wir Studenten damals die Antworten auf unsere Fragen erzwingen wollten. Ulrike Meinhof sagte in einem Interview mit Marcel Reich-Ranicki, sie habe andauernd nur eine einzige Frage bewegt, nämlich: »Wie konnte das geschehen?«101

      Aber es kann auch anders laufen. Wenn man es nämlich zulässt, dass das Kind seine Fragen frei stellen darf, wird es bald vorwärtsdrängen und immer mehr und immer neue Fragen stellen, die weit über die Erklärung der realen Welt hinausgehen. Es will dann nicht mehr nur wissen, wie es geboren wurde, sondern auch warum: »Warum bin ich ich? Warum bin ich kein Reh?«102 Und eine ganze Reihe weiterer Fragen über die Erschaffung von Mensch und Tier und Kosmos, über das göttliche Prinzip beginnt zu fließen. Für mich als Hochschullehrerin waren die lebendigsten, die fruchtbarsten und glücklichsten Momente jene, wenn die Studierenden vorbehaltlos fragten. Und die trostlosesten, wenn ein Thema kommentarlos – und das heißt fraglos – geschluckt wurde. Wirkliches, lebendiges Lernen ist wie das Fragen selbst: ein hoch dialogischer, dialektischer Prozess. Die Lust des einen, der fragt, erzeugt geradezu die Lust des anderen, der antwortet. Das ist die Kunst des Sokratischen Gesprächs, ja, der Sokratischen Lehre selbst, dass der Dialog durch ständiges Fragen inspiriert und in Gang gehalten wird. Wie, wenn wir unsere Kinder nur ungebremst und frei fragen ließen – vielleicht würden sie dann lauter kleine Philosophen.

       Freunde

       »Ich kann die Freunde meiner Kindheit nicht zählen, doch viele Gesichter blicken mich noch an. Ich weiß nicht mehr richtig, wer sie sind, doch sie haben ihre tiefen Spuren in mir hinterlassen, sie in mir und ich in ihnen. Wen werde ich wiedererkennen in diesem Spiegelbild?«

      Jacques Lusseyran

      Jean-Jacques Sempé, der immer leicht melancholische, großartige französische Cartoonist – in Deutschland vor allem durch seinen kleinen, stets von einer Freundesbande umzingelten Nick bekannt –, bekennt in einem Gespräch, dass er als Kind nie wirklich Freunde gehabt habe. Aber er war schon damals nicht auf den Kopf gefallen und äußerst kreativ: »Wir wohnten nicht sehr weit vom Stadtpark, in Bordeaux hieß er Jardin public. Mein Bruder und ich gingen sehr häufig dorthin. Und es durfte niemand wissen, dass ich keine Freunde hatte, das war bei mir so eine fixe Idee. Die Frauen, die dort mit ihrem Strickzeug saßen und auf ihren Nachwuchs aufpassten und mich vorüberrennen sahen, durften bloß nicht denken, ich sei ganz allein mit meinem Halbbruder da. Im Gegenteil, sie sollten glauben, wir hätten eine ganze Horde von Freunden, und so habe ich, sobald ein paar Erwachsene in der Nähe waren – mein Halbbruder muss mich für verrückt gehalten haben –, plötzlich ›Sie kommen, sie kommen!‹ geschrien und bin losgerannt und hab meinen Halbbruder hinter mir hergezogen. ›Sie kommen!‹, das sollte signalisieren, dass andere Kinder uns verfolgten, obgleich wir ganz allein waren. Mir hat das sehr gefallen, weil ich dachte: Jetzt glauben all diese Erwachsenen, dass ich ganz viele Freunde habe.«103 Diese Geschichte ist nicht nur witzig, sondern sie zeigt auch, wie trügerisch unsere Wahrnehmung von dem ist, was wir gemeinhin Freunde nennen – dies gilt anscheinend für Kinder ebenso wie für Erwachsene. Und diese Geschichte erzählt auch viel über den Menschen Jean-Jacques Sempé.

      Anfänglich sind es zumeist eher Zufälle, welche Jungen und Mädchen zusammenbringen: die Nachbarschaft, der gemeinsame Schulweg, der Pausenhof. Man kann einander gut leiden und schon tituliert man den anderen als Freund oder Freundin. Und ebenso leicht und schnell wie diese Freundschaften geschlossen werden, werden sie auch, zumindest verbal, wieder aufgekündigt. So durchzieht etwa der Satz: »Du bist meine Freundin gewesen« die allermeisten Kleinmädchengespräche als latente Drohung, und von einem Moment auf den anderen wendet er sich in sein Gegenteil: »Du bist meine allerliebste Freundin!« Dauerhafte freundschaftliche Bindungen, die auf Sympathie, auf gleicher Interessenlage und Schwingung beruhen, gehen Kinder in der Regel erst im Pubertätsalter ein, wenn sie frei wählen und ihre Bindungswünsche auch real umsetzen können.

      Im Kindesalter ist die Definition dessen, was beziehungsweise wer ein Freund ist, noch eher fluid. Interessanterweise entdeckt man manchmal erst als Erwachsener, wer von all den vielen Spielgefährten und Wegbegleitern der Kinderjahre ein wirklicher Freund, eine wirkliche Freundin gewesen ist – und dies meist mit der verklärenden Wehmut der Erinnerung.

      Widerspruch: Natürlich gibt es auch Menschen, die sich schon vom Grundschul- und manchmal sogar Kindergartenalter an lebenslang die Freundschaft hielten. Und natürlich gibt es die wunderbaren Geschichten, wo sich bereits Zwölfjährige auf dem Schulweg heimlich die ewige Freundschaft versprachen und später einander heirateten. Aber das ist schon wieder ein anderes Kapitel, nämlich Liebe.

      G

       »Der Schatten meiner Seele

       durchflieht ein Verdämmern

       von Alphabeten,

       Büchernebel

       und Worte.«

      Federico García Lorca

       Gang

       »Gehen – atmen – welches Glück.«

      Peter Handke

      In den Waldorfschulen wird der Schulbeginn eines Kindes mit einer besonderen Feier zelebriert. Die Schulgemeinde versammelt sich in der festlich geschmückten Aula. Auf der Bühne steht der Klassenlehrer der ersten Klasse und ruft jeden kleinen Schulanfänger einzeln bei seinem Namen auf. Bis zu diesem aufregenden Moment sitzt das Kind zwischen seinen stolzen Eltern, Großeltern und Paten. Wenn es nun aufgerufen wird, ergreift es seinen viel zu großen, funkelnagelneuen Ranzen und klettert die Stufen zur Bühne empor. Klettert? Nein, ich bräuchte dreißig verschiedene Worte, um die dreißig unterschiedlichen Gangarten der Kinder in diesem Moment einzufangen: stürmen, stolpern, sich überschlagen, hetzen, hüpfen, schreiten, schlurfen, kriechen, zögern, bocken, stehen bleiben, umkehren, in die falsche Richtung gehen, hinfallen, wippen – alles gibt es, nur keine Gleichförmigkeit.

      In diesen wenigen Minuten kann man so gut wie alles über das Kind erfahren: beispielsweise ob es ein Draufgänger ist (es überspringt eine Stufe), ob es eitel ist (es schwenkt beim Gehen den Ranzen hoch in die Luft), ob es ängstlich ist (es bleibt unten stehen und


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