Das Alphabet der Kindheit. Helge-Ulrike Hyams

Das Alphabet der Kindheit - Helge-Ulrike Hyams


Скачать книгу
alles verstehen, ist falsch. Sie holen sich genau das, wofür sie gegenwärtig empfänglich beziehungsweise reif sind. Für sie Unverständliches lassen sie beiseite, überhören und übergehen es und orientieren sich an dem, was für sie stimmig ist. Später dann, wenn diese Kinder herangewachsen sind, kann es durchaus sein, dass sie die Filme längst vergessen haben. Nicht jedoch die langen Nachmittage, an denen sie Seite an Seite mit ihren Eltern, mit Großeltern, Geschwistern oder Freunden – oder womöglich auch ganz allein – auf den roten Samtsesseln in einer anderen Welt versunken waren. Mag sein, dass sie am Ende einzig das Rot erinnern. Aber was für ein Rot!

       Fliegen

       »Der Wind hat Spiele, das Kind seine Ziele, es wittert das Fliegen.«

      Theodor Däubler

      Die neunjährige Josephine erzählt von ihrem wiederkehrenden Traum: »Wirklich, ich konnte fliegen. Und ich konnte die Menschen verzaubern, dass sie auch fliegen konnten. Ich habe sie mit meinem Finger berührt, und schon flogen sie los.« In einem Traum wie diesem geht es ganz sicher nicht um Flugzeuge und Flugmaschinen. Es geht um das elementare Gefühl, aus eigener Kraft abheben zu können – wie ein Vogel, wie ein Schmetterling oder irgendein Zauberwesen. Und fast ebenso faszinierend ist es für das Kind, von Großen an Armen und Beinen kreisend durch die Luft gewirbelt oder geschleudert zu werden. Die Erfahrung, abzuheben und sicher wieder aufgefangen zu werden, ist überaus wichtig, und das Kind muss sie unzählige Male wiederholen, damit sie wirklich unauslöschlich im Körperinnern verankert ist.

      Der Traum, fliegen zu können, ist vielleicht so alt wie die Menschheit selbst. Die Sage von Ikarus ist nur ein, allerdings besonders faszinierendes, Dokument dieser Sehnsucht.94 Der Mythos zeigt, dass der Wunsch zu fliegen viel mehr als nur ein normales Begehren unter anderen ist. Er kann übermächtig sein und sogar zur Sucht werden: Immer höher, weiter, schneller soll es gehen: »Mehr, mehr!«, ruft der kleine Häwelmann in der gleichnamigen Kindergeschichte von Theodor Storm.95 Er kann nicht genug bekommen von der Himmelsreise in seinem Kinderbettchen.

      Warum diese Sehnsucht nach Fliegen? Warum dieser Ruf nach mehr? Und warum dieser Thrill? Der Traum vom Fliegen rührt womöglich an einen tief existenziellen Widerspruch, dem Antagonismus von Schwere und Schwerelosigkeit, dem wir als Menschen ausgesetzt sind. Vorgeburtlich lebten wir als schwimmendfliegende Wesen außerhalb der Schwerkraft. Unser Sensorium war reines Körperempfinden oder, wie René Spitz es formuliert, coenästhetische Wahrnehmung.96 Nicht mittels Sprache und Zeichen fühlten wir damals, sondern mittels einer bis in die Zellen gehenden und alle Sinne umfassenden Tiefensensibilität.

      Nach einer Phase von nur wenigen Wochen und Monaten – und für die meisten Eltern viel zu schnell – beginnt das Sich-Aufrichten des Säuglings, der Kampf gegen die Schwerkraft. Zuerst ist es der Kopf, der sich erhebt, dann der Oberkörper; das Kind lernt sitzen, und irgendwann nach dem ersten Lebensjahr beginnt der aufrechte Gang. Das viele Fallen beim Laufenlernen weist das Kleinkind ein in die Regeln der Schwerkraft. Es gibt kein Zurück.

      Außer beim Fliegen! Ähnlich wie beim Schwimmen im Wasser werden die Gesetze der Schwerkraft auf den Kopf gestellt. Plötzlich ist alles leicht, man hebt ab, die Luft, die Wolken, der Wind oder die Gänse tragen. Und sie tragen sicher – jedenfalls in den (meisten) Kinderträumen.97

      Sobald das Kind dagegen in die Erziehungsinstitutionen eintritt, ist für solche Kinderträume nicht mehr viel Platz. Die individuellen Vibrationen der Kinder stören den Ablauf in Kita und Schule, wo es um Arrangements in der Gruppe geht, um Gleichklang, Ordnung und Disziplin. Hier soll das Kind Realität und deren Spielregeln lernen: »Auf der Erde steh ich gern«, singen die Kinder gemeinsam vor dem Unterricht. Es würde die Schulordnung verwirren und ad absurdum führen, sängen die Kinder stattdessen: »I believe I can fly.«

      Irgendwann lassen die meisten Kinder ihre Fliege-Fantasien hinter sich. Sie vergessen oder verdrängen sie. Aber das Verdrängte lässt sich doch nie vollends verschütten oder gar abtöten. So ist es kein Wunder, wenn später im Erwachsenenalter in Phasen besonderer seelischer Empfindsamkeit, bei Trauer oder in Hochstimmung, unter Drogen oder natürlich in Träumen die Sehnsucht nach dem vorgeburtlichen Schwebezustand immer wieder durchbricht.

      Manche Erwachsene sind sich ihrer Sehnsucht nach Fliegen bewusst und werden ganz real Pilot oder Flugbegleiter. Andere wiederum brauchen gar nicht die Realität eines fliegenden Berufs. Als Musiker, Dichter, Maler oder Tänzer dürfen auch sie schweben, allerdings im übertragenen Sinne. Und zum Glück gibt es die Schriftsteller, die den Kinderträumen und -sehnsüchten sehr nahe sind: Astrid Lindgren (mit Hans vom Dach und Mio, mein Mio), Selma Lagerlöf (mit Nils Holgerssons wundersamer Reise), Joanne K. Rowling (mit Harry Potter), Gerdt von Bassewitz (mit Peterchens Mondfahrt) und Michael Ende (mit seiner Unendlichen Geschichte). Sie alle haben ein tiefes Wissen, dass »die Kunst des Fliegens real und jederzeit für jeden erlernbar ist, dem der Sinn danach steht«.98

       Fragen

       »Wenn dich dein Kind morgen fragen wird, …«

      5. Mose 6,20

      Ich liebe Kinder, die viel fragen. Zum Beispiel: »Was heißt bewundern?«; »Was ist eine Weisung?«; »Was heißt vergänglich?« Besonders direkt und gleichzeitig bohrend fragt der kleine Prinz bei Saint-Exupéry. Und er fragt stellvertretend für alle Kinder. Nichts ist gegeben. Gar nichts versteht sich von selbst. Oft sind es Welten, die das fragende Kind von den großen Leuten trennt. Und je sicherer die Antworten der Erwachsenen ausfallen, desto provozierender fragt das Kind weiter. Es möchte alles wissen. Wohlgemerkt: alles. Es will wissen, wie es auf die Welt kam – dies vor allem! Und woher die Berge kommen, das Meer, die Flüsse und die Tiere, und warum es Mörder gibt. Es will sich durch sein Fragen die Welt aneignen, auf seine eigene Weise.

      Seine ersten Fragen richtet das Kind an Mutter und Vater. Sie dürfen nicht ins Leere gehen. Sie müssen wie ein Ball aufgefangen werden, damit das Fragen und Antworten zur Gewohnheit wird. Damit der Dialog nicht versickert und nicht entgleist.99 Wo nämlich der Austausch von Frage und Antwort endet, wo die Fragen der Kinder ins Leere gehen, da hört das Kind häufig auf, weiter zu erkunden. Es begnügt sich mit dem Gegebenen, so wie es ist, und irgendwann interessiert es sich nicht mehr, warum etwa Menschen und Tiere sterben müssen. Es verliert den brennenden Impuls, hinter die Dinge zu schauen – zu transzendieren.

      Denn auch darum geht es: das Geschaute und offensichtlich Gegebene zu hinterfragen und damit hinter seine Geheimnisse zu gelangen. Die äußere Realität der Dinge nimmt jedes Kind mit seinen Sinnen deutlich wahr – es sieht, es hört, es riecht und tastet –, aber dem Wesen der Erscheinungen muss es durch Fragen nachspüren: Wie sind wir entstanden? Wie bin ich entstanden? Wer hat uns Menschen gemacht? Wer hat mich gemacht?

      Die meisten Eltern und Lehrer sind dankbar für die Fragen der Kinder, ist es doch ein Zeichen dafür, dass das Kind lernen will und sich der Welt öffnet. Manchmal stehen wir als Erwachsene staunend vor solchen Fragen, die wir in dieser Radikalität nie hätten stellen können. Ich erinnere mich an einen damals zehnjährigen Jungen in einem Gespräch über die Beziehung zwischen Mensch und Tier. Er fragte mich: »Warum essen wir das, was wir am meisten lieben?«

      Ein faszinierendes Beispiel von Fragelust gibt der Knabe Jesus im Tempel. Der Zwölfjährige fiel den Priestern und Gelehrten damals nicht durch seine Frömmigkeit, sondern durch seine kluge, wissbegierige Art des Fragens auf: »Der Knabe sitzt inmitten von gelehrten Theologen, und das lebendigste Gespräch fließt in die Fragen und Antworten herüber und hinüber. Die Lehrer können nicht genug staunen über die Fülle von Wissen und Weisheit, die sich in den Fragen und erst recht in den Antworten des Knaben offenbart. Sie fühlen hier ihre eigene Weisheit weit übertroffen«, schreibt Emil Bock in seinem Buch über Kindheit und Jugend Jesu.100 Als die Eltern ihren drei Tage lang vermissten Sohn wiederfinden, rechtfertigt er sein Verschwinden mit einer Frage: »Muss ich nicht sein bei dem, was meines


Скачать книгу