Das Alphabet der Kindheit. Helge-Ulrike Hyams

Das Alphabet der Kindheit - Helge-Ulrike Hyams


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wie federnd, wie hart oder weich das Kind seine Füße setzt, verraten manches über sein Wesen: Einige Kinder fliegen förmlich in die Arme des Lehrers, so als hätten sie bereits seit Ewigkeiten auf diesen Moment gewartet.

      Auffallend selten ist der kindliche Gang Thema pädagogischer Überlegungen. Die Wissenschaft hat sich immer mehr für den Kopf als für die Füße des Kindes interessiert. Umso eindrucksvoller sind die Wahrnehmungen der Dichter: »Ich werde den Klang deines Schrittes kennen, der sich von allen anderen unterscheidet«, heißt es etwa bei Antoine Saint-Exupéry.104

      Dabei offenbart doch der Gang tatsächlich, wie wir in der Welt stehen, zu unseren Mitmenschen und sogar zu uns selbst. Ebenso wie die Sprache unterscheidet er uns von den Tieren, und es wundert nicht, dass die sogenannten wilden Kinder, die ganz unter Tieren aufwachsen, aus eigenem Antrieb nicht die menschliche Gangart annehmen. Gehenlernen braucht wie das Erlernen von Sprache das menschliche Vorbild. Gehenlernen ist deshalb ein Zeichen der Menschwerdung, und ähnlich wie das erste vom Kind gesprochene Wort heilig ist, empfinden viele Eltern die ersten Schritte als etwas ganz Besonderes in der Entwicklung ihres Kindes, das sich nun vom liegend-kriechenden zum aufrechten Wesen verwandelt. Es dauert noch eine Weile, bis das Kind seinen ganz persönlichen Gang entwickelt, und es ist gut, ihm hierbei viel Zeit und Freiheit zu gewähren. Wir sollten einzig dafür Sorge tragen, dass es ein aufrechter werde.105

       Garten

       »Der große Garten bildete ein doch sehr fremdes Gebiet. Man hätte meinen können, dass er hauptsächlich dazu diente, die kleinen Katzen einzugraben, die in Überzahl geworfen wurden. Weit hinten ein dunklerer Gang und zwei hohle Buchskugeln: dort fanden einige Episoden aus der Kindersexualität statt.«

      Roland Barthes

      Hätte ich wie im Märchen Wünsche frei, so wünschte ich jedem Kind auf Erden einen Garten – seinen Garten. Ich wünschte ihm den Garten ganz real als ein Stückchen umrandete Erde. Nicht Abriegelung, wohl aber Schutz und Hülle. Und ich wünschte ihm diesen Garten auch gleichzeitig symbolisch, als inneres Bild eines Ortes, an dem das Kind ganz bei sich ist und es Urerfahrungen machen kann: Erde anfassen – riechen – sich besudeln – Löcher graben – sich verstecken – sich unsichtbar machen.106

      Was die Fibel für das Erlernen der Schrift, das ist der Garten als Initiation in die Natur. Der Garten birgt en miniature alles, was die Natur im Großen und in unendlichen Variationen bereitstellt: Nirgendwo sonst kann das Kind über eine relative Dauer hinweg mit Tieren in Kontakt sein. Es kann Igel beobachten, Schnecken sammeln, Vögel ihre Nester bauen und Ameisen ihre Bahnen ziehen sehen. Nirgendwo sonst durchlebt es die Jahreszeiten derart hautnah und intensiv wie im Garten. Es wartet auf die ersten Schneeglöckchen, auf die Stachelbeeren im Sommer und die Birnen im Herbst. Im winterlichen Garten bekommt es eine erste Ahnung von dem Geschehen auch unter der Erde, dass nämlich Wachsen (pflanzliches ebenso wie menschliches) durchaus nicht immer für die Augen sichtbar ist. Zudem lernt es nebenbei, dass die Realität des Supermarktes, in dem man das ganze Jahr über jederzeit nach Orangen und Trauben greifen kann, eine trügerische ist. Alles Wachsen und Reifen hat seine Zeit. Ein schwerer, mitunter verwirrender Lernprozess zumal für Großstadtkinder.

      Apropos Großstadt: Eine der erfreulichsten Innovationen der vergangenen Jahre sind sicher die kollektiven und interkulturellen Gärten, wie man sie derzeit in vielen Städten entdecken kann. Ausgehend von der Idee der New Yorker Community-Gardens107 teilen sich hier Familien, zumeist mit ihren Kindern, Gartenflächen zum gemeinsamen Pflanzen und Experimentieren, zum Ernten und Miteinander-Teilen. Ja, vielleicht wäre dies überhaupt die eigentlich wünschenswerte Form zukünftiger Gärten – grenzenlos geteilte Gartenarbeit und Gartenlust für alle und jedermann.

      Übrigens war es der Pädagoge Friedrich Fröbel, der dieses gemeinschaftsstiftende Moment der Gärten schon deutlich erkannt und benannt hat.108 Von ihm stammt der Begriff des Kindergartens. Diese Wortschöpfung ist so einzigartig, dass sie in zahlreiche fremde Sprachen übernommen wurde und man heute auch in Australien, Japan und anderswo vom Kindergarten spricht. Fröbel hat die menschenbildenden und heilsamen Kräfte des Gartens auf seine Weise verstanden: Das Kind braucht den Garten für seine Individualisierung und gleichzeitig für sein Sozialwerden. Immer wieder vergleicht er – ähnlich wie Jean-Jacques Rousseau – das Kind mit einer Pflanze, das achtsam umhegt, geschützt und bewässert werden, aber stets nach eigenem Gesetz wachsen muss, in welches der Erzieher (der Kindergärtner) niemals willkürlich eingreifen darf.

      Schade, dass sich moderne Erzieherinnen so vehement gegen die traditionelle Bezeichnung Kindergärtnerin wehren. Ist sie zu poetisch? Zu abgehoben? Warum wollen sie lieber die Kinder erziehen, anstatt sie in ihrem Garten zu begleiten? Seien wir doch ruhig ein bisschen altmodisch und behalten – auch wenn die wirklichen Gärten der Kinder im Verschwinden begriffen sind – das Wort Kindergarten bei. Es ist einfach nur schön und verheißungsvoll, weil es dem Wachsen der Kinder (und der Pflanzen) so viel Raum und so viele Möglichkeiten gibt.

       Geburt

      »Natur und Mensch.

      Mutter und Kind.

      Zwischen ihnen das große Rätsel.

       Das Mysterium des Lebens.«

      Frédérick Leboyer

      Gerade in dem Moment, da Sie diese Zeilen lesen, wird ein Kind geboren. Vielleicht in einem Zimmer ein paar Straßen entfernt, vielleicht in dem Kreißsaal eines naheliegenden Krankenhauses, ganz sicher aber an unzähligen Orten überall in der Welt: in Zelten von Flüchtlingslagern, auf dem Erdboden, in Wäldern, auf Bergen. Überall wiederholt sich das Mysterium des Lebens, wie es der französische Frauenarzt und Philosoph Frédérick Leboyer bezeichnet.

      Wie sich diesem Mysterium nähern? Vonseiten der Mutter, die gebiert und deshalb von ihrer Geburt spricht (»meine Geburten«)? Oder aus der Perspektive des Kindes, das zur Welt kommt (des Kindes »in seiner Geburt«)?109 Die sprachliche Zweideutigkeit verweist auf das eine symbiotische Geschehen, das zugleich ein doppeltes ist, in dem jeder, nämlich Mutter und Kind, gleichermaßen seinen Part spielen muss.

      Und in welchen Kategorien nähert man sich? In Begriffen wie Glück? Die Natur kennt nicht Begriffe wie Glück und Unglück, sie kennt nur Notwendigkeit. Erst die Gebärende selbst definiert, ob die Geburt für sie Glück ist. Und dieses Glück stellt sich auch selten während der Geburt ein, sondern erst danach, wenn die Mutter ihr Kind auf dem Bauch liegen hat, wenn sie sieht, dass ihm nichts fehlt110, wenn sie seine Stimme hört und seinen Geruch wahrnimmt.

      Und das Kind: Weiß es um sein Glück, geboren zu sein? Wenn es in der Lage wäre, seine ersten Empfindungen mitzuteilen, klagte es womöglich eher über sein Unglück, über den Verlust von Wärme und Getragensein und über Abgeschnittensein von den mütterlichen Rhythmen. Von Wehen bedrängt und gepresst, erlebt es den Durchgang durch den Geburtskanal als erste dramatische Bedrohung und Beengung.111 Der Psychoanalytiker Otto Rank spricht in diesem Zusammenhang vom Trauma der Geburt, das alle Neugeborenen körperlich durchleben und das im späteren Leben des Menschen seine seelischen Spuren hinterlässt.112 Nicht zufällig kreisen viele Träume von Kindern und Erwachsenen und ebenso viele Märchen und Mythen um die Sehnsucht des Menschen, die Geburt rückgängig zu machen, hin zu jenem zeitlosen paradiesischen Zustand im mütterlichen Leib, wo Milch und Honig fließen.113

      Faszinierend ist, wie unterschiedlich Frauen die Geburt ihrer Kinder erleben. Falls sie nicht durch Ganz- oder Teilnarkose betäubt und damit erlebnismäßig weitgehend abgeschnitten sind, bewältigt jede Frau die Geburt auf individuelle Weise. Das reicht von einer ungeduldig aggressiv-fordernden Haltung bis hin zum passiv Geschehenlassen. Schon die Entscheidung über den Ort der Geburt (Klinik oder zu Hause) sowie deren möglichen Ablauf (künstliche Einleitung der Wehen zu einem fixierten Zeitpunkt, Wahl einer bestimmten Anästhesie) sagt viel über die Frau und über die bevorstehende


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