Die Siebte Sage. Christa Ludwig

Die Siebte Sage - Christa Ludwig


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Junge. Der Kalif hat es nie erfahren.»

      «Es hat schon mal ein Kind mit sechs Zehen gegeben?» Dshirah wunderte sich. Ihr Bruder nickte: «Das ist gar nicht so selten in unserem Volk. Komm!»

      Zum ersten Mal, seit das Unglück begonnen hatte, musste Dshirah weinen. Januão legte ihr die Hände auf die Schultern. Auch in ihre weinenden Augen passte Blick in Blick, denn auch in seinen standen Tränen.

      «Wir werden dort keine Not leiden», versuchte er zu trösten. «Es gibt da wundervolle kleine Pferde. Ganz sicher folgen die mir so gut wie unsere hier. Und ganz gewiss brauchen sie dort einen Pferdepfeifer.»

      Aber Dshirah schüttelte den Kopf.

      «Du darfst dort barfuß gehen», versprach Januão, «und die Hunde können wir mitnehmen, und, Dshirah, du darfst dort eine Freundin haben, hörst du! Eine Freundin! Das war doch immer dein größter Wunsch.»

      Er schloss die Augen, als er das sagte, und von Silbão hörten sie einen leisen Schluchzer.

      «Ja», hauchte Dshirah, «ja.»

      Januão ließ sie los.

      «Wir gehen jetzt», sagte er.

      Er holte aus der Kleiderkiste ein paar weiche geschlossene Lederschuhe, sie zog die Sandalen aus. Januão erstarrte.

      «Wo hast du die her?», fragte er.

      «Gestohlen», behauptete sie, «in der Schustergasse.»

      «Gib her!»

      Er drehte die Sandalen in seinen breiten, klotzigen Händen, von denen kein Fremder erwartet hätte, dass er damit Flöte spielte.

      «Das ist gut», murmelte er. «Das ist gut.»

      Er blickte auf, schaute seine Schwester an.

      «Geh in dein Versteck!», befahl er.

      «Mein Versteck!», rief Dshirah leise. «Ich kann doch einfach in meinem Versteck bleiben!»

      Aber Januão schüttelte den Kopf.

      «Nein! Da bist du nur sicher, solange dich Polizisten suchen. Polizisten sind dumm. Sie haben nichts zu tun. Die können nichts mehr, als ihre Pferde ausbilden. Morgen werden sie Soldaten schicken. Die finden dich dort. Geh.»

      Sie stiegen beide auf die Truhe und schoben ein Brett in der Decke beiseite. Dann half er ihr in den doppelten Boden zwischen Decke und Dach. Da konnte sie nur liegen und warten, nichts sehen, aber hören. Doch es blieb still. Wie lange? Sie hatte hier manchmal liegen müssen. Zum Üben für den Notfall. Und jedes Mal war ihr die Zeit entsetzlich lang geworden.

      «Im Notfall», hatte ihr Vater immer gesagt, «wirst du froh sein über jeden Herzschlag, den du da in Sicherheit bist.»

      Sie war aber nicht froh. Es war eng und fast dunkel, nur durch die Ritzen der Bretter kam ein wenig Licht.

      Ja, dachte sie, morgen kommen Soldaten, und die sind nicht dumm.

      Polizisten galten als dumm in Al-Cúrbona. Es gab keine Mörder und keine Diebe im Land, fast nicht. Das lange Nichts-Tun hatte die Polizisten dumm gemacht.

      Und dann hörte sie einen Schrei, einen Freudenschrei.

      «Ich hab sie! Ich hab sie gefunden!»

      Januãos Stimme.

      «Was hast du gefunden?»

      Das musste einer der Polizisten sein.

      «Dshirahs Sandalen! Sie lagen beim Misthaufen. Dshirah lässt eben immer alles herumliegen.»

      Es war eine Weile still. Dann hörte Dshirah den Polizisten.

      «Und warum zieht sie in der Stadt keine Sandalen an? Der kleine bardische Junge hat gesagt, sie trägt nie Sandalen.»

      «Sie geht doch erst seit zehn Tagen in die Schule.» Das war die Stimme ihres Vaters. «Sie wird schon noch mit Sandalen kommen.»

      «Wir warten», bestimmte der Polizist. «Wir bleiben auf alle Fälle, bis sie nach Hause kommt.»

      «Darf ich jetzt die Pferde reinholen?», fragte Januão.

      Eine Antwort hörte Dshirah nicht, aber wenig später das leise Klopfen an dem losen Brett, das verabredete Zeichen. Sie schob das Brett beiseite.

      «Diese Sandalen können uns retten», flüsterte Januão. «Jetzt schnell!»

      Er drückte ihr die Lederschuhe in die Hand. Sie schlüpfte hinein, er verknotete die Bänder so fest wie die Mutter. Sie schaute zur Tür mit bittendem Blick.

      «Nein!», er schüttelte den Kopf. «Du kannst dich nicht verabschieden. Du siehst sie erst in Afrika wieder.»

      Sie kletterten aus dem Fenster. Silbão folgte, ohne zu fragen. Run stand sofort wieder neben Dshirah und leckte ihre Hand.

      «Wo kommt das Pferd her?», fragte Januão.

      «Ich habe es eingefangen», log Dshirah.

      «Das ist ein Vollblut.»

      «Ich weiß. Wahrscheinlich gehört es zum Haus Al-Antvari. Ich denke, der Reiter ist runtergefallen. Bring du es morgen zurück.» Januão nickte.

      «Das hat dich gerettet», sagte er. «Am Steg über den Fluss steht ein Reiter und wartet auf dich.»

      Er band die Stute los.

      «Wir lassen sie bei unseren.»

      Dshirah nahm ihm die Zügel aus der Hand. Sie legte Dshalla die Arme um den Hals, drückte ihr Gesicht in die dunkle Mähne, wühlte Stirn und Nase durch bis zu dem glatten gelben Fell, trocknete dabei ihre Tränen im feinen Mähnenhaar. Dabei legte sie der Stute eine Hand auf den Rücken. Morgen würde Zaiira wieder dort sitzen. Drei Herzschläge lang fühlte sie sich noch einmal, ein letztes Mal, der Freundin nah, so nah. Und Run stand hinter ihr und leckte ihre Kniekehlen, die ganze Zeit.

      «Komm jetzt», flüsterte Januão und tippte leicht auf ihre Schulter.

      «Ich muss ihr danken», sagte Dshirah. «Sie hat mich doch gerettet.»

      Und sie ließ Januão nicht merken, dass sie nicht die Stute, sondern Zaiira meinte. Ihre Hände flatterten über Dshallas Brust und Hals, über Ohren, Stirn, Nüstern, sie konnte nicht aufhören zu streicheln, zu klopfen, überall da, wo Zaiiras Hände dieses Fell berührt hatten und wieder berühren würden. Und dann hätte sie eigentlich das Gesicht wieder in die Mähne drücken müssen, denn sie hatte sonst nichts, um die Tränen zu trocknen, aber Januão zog sie weiter. Er holte seine Flöte aus dem Schuppen, hängte sie sich um den Hals. Dshirah sah, dass er weinte. Er wählte drei Pferde und vier Halfter aus, gab Dshirah das vierte Halfter, er berührte dabei ihre Hand und hielt sie fest, das wäre nicht nötig gewesen. Dshirah verstand, dass dies ein Abschied war.

      Run war ihnen nachgelaufen und wich nicht von Dshirahs Seite.

      «Nieder!», befahl Januão leise, aber scharf, und er hob den Arm, als schwinge er eine Peitsche. «Nieder! Hart Leder sonst droht!»

      Die Hündin zuckte zusammen und kauerte winselnd am Boden. Sie hatte diese schlimme Drohung aus Januãos Mund noch nie gehört. Dshirah wollte sich zu ihr setzen und sie trösten, aber sie hatte verstanden, was sie zu tun hatte.

      Silbão saß als Erster auf dem Pferd. Er konnte am besten aufspringen, und das war gut so, denn er fiel am häufigsten hinunter. Dshirah und Januão führten ihre Pferde zu einem Stein und kletterten hinauf.

      «Du erklärst ihr alles», sagte Januão zu seinem Freund, wendete sein Pferd nach Nordwesten und trabte davon, ohne Dshirah noch einmal anzusehen. Die wusste sofort, sie würde ihn so bald nicht wiedersehen. Nur hören. Sie schaute noch einmal auf ihr Haus, auf die Stallungen. Dann presste sie die Augen fest zu. Das Letzte, was sie von ihrem Zuhause wahrnahm, war Run, ein schwarz-gelber zitternder Fleck vor dem Stall.

      Sie ritt mit Silbão nach Südwesten. Als sie sich ein einziges Mal umdrehte, war ihr Bruder nur noch ein kleiner


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