Die Siebte Sage. Christa Ludwig

Die Siebte Sage - Christa Ludwig


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sagte sie, «bitte …»

      Vielleicht konnte sie noch ganz schnell, bevor der Zauber der Musik vollends verging, von diesen Leuten erfahren, wo Silbãos Schwester war. Sie wusste ja nicht, wie diese Leute waren, wenn sie nicht mehr unter dem Eindruck von Januãos Lied standen. Die sahen alle so eckig und kantig und spitz aus, und sie waren so grau, wie auch zehn Regentage die Berge nicht machen konnten. Und sie waren ja Verbrecher, alle miteinander, sonst wären sie doch nicht hier.

      «Bitte», sagte sie, «wo …»

      Aber sie hatte vergessen, wie Silbãos Schwester hieß. Da fiel ihr ein, dass es in wenigen Augenblicken dunkel sein würde, und im selben Atemzug merkte sie, wie hungrig sie war – sie hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen. Mit hastigen Augen schaute sie sich um. Zwischen den mageren Körpern der grauen Gestalten sah sie verfallende Hütten aus Holz. Sie erhob sich auf die Knie, aber dann blieb sie lieber sitzen. Eigentlich wollte sie sich verkriechen, wollte fort von diesen Leuten, die doch alle Mörder waren oder mindestens Diebe, fort – nur nicht zurück in die Blumen. Sie schaute sich um. Die Blumen wuchsen oben auf der Mauer, und auch hier innen hingen sie hinunter bis in den Dreck. Die Dämmerung begann den großen Blüten die Farben zu nehmen. Sie machte sie den Gesichtern und den Kleidern der Menschen ähnlich, nur nicht deren Geruch. Ein Mann trat auf Dshirah zu.

      «Was kommst du hier rein?», fragte er. «Wir kennen nur welche, die rausgehen.»

      Was sage ich ihm?, dachte Dshirah. Oh, wir haben nicht überlegt – ich kann ihm doch nicht sagen –

      Da drängte sich eine Frau durch die Reihe.

      «Hast du einen Jungen gesehen?», fragte sie. «Der rausrannte?»

      Dshirah nickte.

      «Ist er durchgekommen? Bis zum Hügel?»

      Dshirah nickte: «Ja, ich habe ihn am Hügel gesehen.»

      Die Frau schloss die Augen, taumelte, lehnte sich an einen anderen, fand nur wenig Halt, schwankte, flüsterte: «Danke. Danke.»

      «Doch – es kommen welche rein», sagte eine andere Frau. «Dieser Junge. Er war schon dreimal hier.»

      Dshirah horchte auf.

      «Er besucht seine Schwester», sagte sie rasch. «Das will ich auch. Wisst ihr, wo seine Schwester …?»

      Kopfschütteln. Achselzucken.

      «Der ist ein ganz Schneller», sagte einer. «Der flitzt hier so durch. Der hat Kraft und keinen Hunger.»

      Dshirah stand auf.

      «Ich muss sie suchen», sagte sie, «seine Schwester. Sie wohnt da.»

      Sie ging nach Nordosten. Noch konnte sie sehen, wo die Sonne untergegangen war. Niemand stellte Fragen, keiner hielt sie auf. Nur die Frau, die nach dem geflohenen Jungen gefragt hatte, griff nach ihrer Hand und drückte sie. Dshirah schaute in Augen, die aus der Dunkelheit leuchteten. Da hatte sie etwas weniger Angst.

      Sie irrte durch die Gassen zwischen verfallenen Holzhäusern. En-Wlowa musste vor sehr langer Zeit einmal ein Dorf gewesen sein, als es hier noch Wälder gegeben und man mit Holz gebaut hatte. Sie fand keinen geraden Weg nach Nordosten, musste nach rechts, nach links und wusste schon bald nicht mehr, wo die Sonne untergegangen war. Es wurde kalt. Sie hatte nur Kleidung für die Zeit der Sonne am Himmel, und es war in diesem Land bei Tag so heiß, wie es nachts kalt war. Sie schloss das Hirtenhemd fest um den Hals, aber wenn sie sich den Hals damit wärmte, zog sie es von den Knien weg, und ihre Beine wurden kalt. In ihrem Bauch war die Blase so voll, wie der Magen leer war. Gab es hier Abtritte? Plötzlich war es ihr dringlichster Wunsch, einen Abtritt zu finden. Sie spürte keine Kälte mehr, keinen Hunger, keinen Durst. Aber sie fand einen Brunnen. Und sofort hatte sie wieder Durst. Doch trinken? Noch mehr in die Blase füllen? Und war das Wasser denn sauber? War es gut? Es glänzte dunkel im Mondlicht. Dshirah starrte auf den hellen Strahl, der aus dem Holzrohr in das steinerne Becken rann. Sie presste die Beine fest zusammen und drückte die Hände unter den Bauch. Sie durfte den Wasserstrahl nicht mehr anschauen, sie musste den Kopf abwenden und konnte es nicht – da rann es warm in ihre Schenkel. Sie hockte sich schnell auf den Boden und raffte das Hemd. Schaute ihr jemand zu? Bestimmt war es verboten, neben den Brunnen zu pinkeln, bestimmt. Eine dürre Gestalt beugte sich von der anderen Seite über den Brunnen, schnappte nach dem Wasserstrahl, ließ sich das Wasser in den Mund laufen, ging davon. Und im selben Herzschlag bedauerte Dshirah, dass die Wärme da aus ihr herauslief, es war ihre einzige Wärme, sie hatte sonst keine für diese Nacht. Sie sah diese Wärme als Rinnsal aus dem Brunnenschatten ins Mondlicht laufen. Sie erhob sich und trank aus dem Brunnen. Das Wasser war frisch. Und kalt.

      Sie ging weiter. Sie dachte an die Frau, die sich so gefreut hatte, dass der Junge geflohen war. War er ihr Sohn? Hatten die Leute hier Kinder? Oder hatte sie ihn nur gern? Gab es hier Leute, die jemanden gern haben konnten? Würden die auch sie gern haben? Sie dachte an ihre Mutter und weinte. Nicht weit vom Brunnen, sie konnte ihn sehen, kauerte sie sich in einen Spalt zwischen zwei Häusern. Das Holz hatte noch etwas Wärme vom Tag. Sie zog ihr Hemd über die Knie, konnte aber die Füße nicht bedecken. Sie schlüpfte mit beiden Armen in das Hemd hinein. Aber da packte sie die Angst. Auf der anderen Seite der Gasse sah sie einen Mann an die Holzwand gelehnt sitzen. Wenn der jetzt käme oder ein Hund oder eine Ratte – sie hatte keinen Arm frei, um das abzuwehren, nicht einmal eine Hand, um ihr Gesicht zu bedecken. Der Mann bewegte sich nicht, vielleicht schlief er schon. Da dachte sie ganz fest an ihre Mutter. Sie stellte sich vor, dass die Mutter mit einer warmen Hand durch ihr Hemd, durch ihre Haut in ihre Brust griff. Es tat nicht weh. Die Mutter nahm ihr das getrocknete Weinbeerenherz aus der Brust und legte es in Honigwasser. Und während Dshirah zuschaute, wie es aufging, wie es groß und weich und dick wurde, weinte sie sich die allerletzte Wärme aus dem Körper, bis ihre Tränen schon kalt waren, als sie ihr aus den Augen flossen.

      Sie erwachte am frühen Morgen und wusste, dass sie etwas geträumt hatte, aber sie wusste nicht mehr, was. Es war zu kalt, um sich an Träume zu erinnern. Träume hielten sich unter warmen Decken. Hier klemmte sie so steif gefroren zwischen Holzwänden wie vor zwei Jahren Je-ledlas verunglücktes Fohlen in den Felsen. Das war schon tot gewesen, als sie es gefunden hatten, aber es war wärmer als Dshirah, denn die Stute hatte über ihm gestanden und es geleckt mit ihrer warmen Zunge. Dshirah fühlte sich kälter als tot. Der Mann auf der anderen Seite der Gasse schlief noch. Er kauerte noch genauso wie am Abend zuvor.

      Am Himmel erschien das erste Licht. Menschen kamen zum Brunnen, hielten Schalen unter den Wasserstrahl, tranken. Dshirah sehnte sich nach ihrem heißen Morgentee. Eine der grauen Gestalten trat auf sie zu und hockte sich neben sie.

      «Ich habe dir Bruns Schale gebracht», sagte sie. «Er braucht sie ja jetzt nicht mehr. Ohne Schale bekommst du hier nichts zu essen.»

      Dshirah erkannte die Frau, die gestern nach dem geflohenen Jungen gefragt hatte. Sie reichte ihr eine kleine hölzerne Schale. Dshirah wollte danach greifen, konnte aber den Arm nicht bewegen. Die Frau nahm ihre Hand, hielt ihre kleinen, dünnen Eiszapfenfinger, und in ihren Augen waren so ein Schreck und so ein weiches Mitleid, dass Dshirah tief in sich einen warmen Klumpen spürte, der immer größer wurde, als sei in ihrem Bauch die Sonne aufgegangen. Die Frau löste sie aus dem Holzspalt, hüllte sie in ihre weiten Lumpen und umfing sie mit den Armen, bis die richtige Sonne so weit in das Lager schien, dass ihre Strahlen zu wärmen begannen. Dshirah sah die Frau an, wie sie gern ihre Mutter angeschaut hätte. Dann reckte sie sich langsam in der Sonne. Allmählich konnte sie Arme und Beine wieder bewegen.

      Am Brunnen war es voll geworden. Alle standen ruhig in einer Reihe, als aus einer Gasse sieben oder acht weitere Gestalten kamen, genauso grau wie die anderen, aber sie gingen schneller und kraftvoller. Sie stellten sich nicht hinten an, sondern liefen gleich nach vorn. Dort machte man ihnen Platz. Nur einer stellte sich ihnen entgegen. Den packten sie an der Kehle, warfen ihn zu Boden, traten ihm in den Bauch, auf den Hals, ins Gesicht. Er blieb liegen und krümmte sich im Dreck. Er blutete auch. Dshirah starrte ihn an, als die Frau an ihrem Arm zog. Die schaute woandershin und zerrte sie ans Ende der Schlange.

      «Wenn wir noch länger warten, kriegst du nichts Warmes mehr zu essen», sagte sie. «Wir


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