Die Siebte Sage. Christa Ludwig
sich nur wichtig machen. Und der Fußabdruck im Sand war doch ziemlich verwischt. Können wir nicht endlich gehen? Es gibt keinen Tee und keinen Kuchen mehr.»
Der Offizier nickte. «Morgen, wenn die Schulen schließen, sind wir wieder hier. Da wird das Kind ja wohl nach Hause kommen. Und wenn es nicht kommt – ja dann, dann stimmt es doch. Dann werden wir es suchen. Ein Kind mit sechs Zehen ist im gesamten Kalifenreich nicht zu verstecken.»
Endlich brachen sie auf und erlösten ihre Pferde.
Es blieben zurück: Januão, sein Vater Tazihlo, seine Mutter Chomina.
«Du weißt, wo sie ist?», fragte die.
Januão nickte. Und er erzählte von Silbãos Schwester und dessen heimlichen Besuchen in En-Wlowa.
«Dshirah in En-Wlowa», flüsterte Chomina. «Wie schlimm ist es dort?»
«Sie wird es überleben», sagte Januão.
«Was machen wir, wenn sie morgen wiederkommen?», überlegte Tazihlo. «Die Polizisten kommen nicht wieder, die nicht. Morgen weiß es der Minister, und der schickt Soldaten. Was können wir tun?»
«Fliehen?», fragte Januão. «Sofort. Nach Afrika. Wir haben alles vorbereitet. Und nach einem Monat, wenn sie die Suche nach Dshirah aufgegeben haben, komme ich zurück und hole sie.»
Aber sein Vater schüttelte den Kopf.
«Wir können jetzt nicht mehr heimlich fliehen. Sie merken ja gleich morgen, dass wir fort sind. Und wir sind nicht mehr irgendwelche Hirten. Sie suchen das Kind mit den sechs Zehen. Und seine Eltern. Und seinen Bruder. Sie haben Brieftauben. Mit denen schicken sie die Nachricht voraus. Wir kommen nicht mehr bis zum Meer und schon gar nicht auf ein Schiff.»
«Und wie willst du zurückkehren?», fragte die Mutter. «Und dann die Pferde an En-Wlowa vorbeipfeifen? Und Silbão brauchst du auch.»
Sie schwiegen so lange, bis die Stille Januão wehtat. Dann fragte Chomina: «Diese Sandalen. Wo hast du die Sandalen? Gib sie mir!»
Januão holte die Sandalen wieder aus der Kiste. Chomina hielt sie unter eine der Öllampen, drehte sie in den Händen, sagte:
«Und wie ist Dshirah hierher gekommen? Am Steg war ein Wächter.»
«Sie ist geritten», erklärte Januão. «sie hat ein frei laufendes Pferd eingefangen und ist durch die Furt geritten.»
«Am Stadtrand laufen keine Pferde herum», zweifelte sein Vater.
«Doch. Wahrscheinlich ist einer der Pferdejungen von Antvaris runtergefallen. Es ist ein Vollblut.»
«Bring es in den Patio», verlangte Tazihlo.
Auch für Januão war es nicht leicht, das fremde Pferd bei dem schwachen Mondlicht in der Herde zu finden. Der Mond war nicht mehr als ein dünner Haken am Himmel, und wenn man die Augen voller Tränen hatte, konnte man nicht viel sehen. Januão wusste nicht mehr weiter. Der Vater hatte recht, sie konnten nicht mehr fliehen. Sie waren verloren. Seine Füße waren schwer. Er stolperte über jeden Stein, und das Einzige, was ihn noch auf den Beinen hielt, war der Auftrag des Vaters. Noch hatte er etwas zu tun. Wenn das auch keinen Sinn mehr hatte, keinen Sinn … Er wischte sich die Tränen aus den Augen und erkannte den Hengst. Der schimmerte heller, auch in dem schwachen Licht. Er ging zu ihm. Wahrscheinlich hielt der Hengst die fremde Stute neben sich. Januão erkannte das Vollblut, es hatte einen helleren Kopf. Er legte der Stute ein Halfter an und führte sie in den Patio, ins Licht. Seine Eltern schauten das Pferd an, tauschten einen Blick.
«Sie ist es», sagte Chomina.
«Wer?», Januão verstand nichts mehr.
«Dshallalalama», erklärte Tazihlo. «Die hat Dshirah nicht herumstreunend gefunden. Niemand außer Zaiira reitet dieses Pferd, und wenn sie wirklich einmal runterfällt, dann bleibt die Stute neben ihr stehen.»
«Glaubst du, Dshirah hat sie gestohlen?», fragte Januão. «Sie hat sie ja dann nur ausgeliehen. Sie war in Not …»
«Niemals», sagte der Vater, «würde sie sich mit nur einem Schuh am Fuß in das Haus eines araminischen Fürsten wagen, wenn nicht …»
Er zögerte.
«Es sind Zaiiras Sandalen», sagte Chomina. «Ich kenne sie. Dieses helle Leder – und es ist hier auf eine Weise geflochten, wie man es selten sieht. Wenn die Polizisten nicht so dumm wären, hätten sie gemerkt, dass dies nicht die Schuhe eines Hirtenkindes sind. Zaiira hat ihr die Schuhe gegeben.»
«Und das Pferd», nickte Tazihlo. «Zaiira und Dshirah sind Freundinnen. Sie treffen sich heimlich. Wir haben es gemerkt und geduldet. Aber wir wissen nicht, wie Zaiiras Eltern dazu stehen.»
«Doch, wir wissen es», widersprach Chomina. «Zaiira kann sich nicht heimlich aus ihrem Haus entfernen wie irgendein Hirtenkind. Ich bin sicher, ihre Eltern dulden diese Freundschaft auch. Wenn uns jemand helfen kann, dann sind es Antvaris.»
«Wie?», fragte Januão.
Sein Vater zuckte die Achseln.
«Ich reite hinüber. Du kommst mit.»
«Wenn ihr mich hier allein zurücklasst, werde ich wahnsinnig», sagte Chomina.
«Du musst bleiben. Wir haben die Herde noch nie allein gelassen. Wir tun es auch jetzt nicht. Du hast die Hunde hier. Und du packst alles für unsere Flucht. Denn gehen müssen wir. Wie auch immer.»
Januão hatte die Sandalen zusammengeschnallt und trug sie am Gürtel. Sie ritten zwei Arbeitspferde und führten Dshallalalama am Halfter. Sie kannten den Weg, und die Pferde liefen sicher, sogar in der Nacht. Im Haus der Antvaris brannten die Öllampen. Auch in den Ställen war Licht. Man öffnete den späten Besuchern sofort. Mitten im Hof stand Zaiira. Sie sah schlimm aus.
«Da ist sie!», rief Sidi Antvari. «Zaiira! Tazihlo hat sie gefunden.»
Aber Zaiira rührte sich nicht. Sie blieb starr und steif und ging keinen Schritt auf ihr Pferd zu. Ihr Vater nahm sie in die Arme, hob sie hoch, trug sie zu ihrer Stute, dabei redete er: «Danke, Tazihlo, du bist unsere Rettung. Zaiira, siehst du, da ist sie wieder. Und wenn du sie noch so gut erzogen hast, eine Stute läuft zu der Herde, wenn da ein Hengst ist. Vielleicht ist sie wirklich noch nicht gedeckt. Und danke, Tazihlo, dass du sie sofort gebracht hast …»
Aber Zaiira starrte nur auf die Sandalen an Januãos Gürtel. Dann verkroch sie sich in den Armen ihres Vaters, weinte und schluchzte, dass ihr ganzer Körper geschüttelt wurde. Ihr Vater hob den Kopf, schaute hilflos, ratlos um sich und sagte: «Was geht hier vor? Was ist hier los?»
Tazihlo fasste seinen Sohn an der Schulter, zog ihn mit sich, als er dicht an Sidi Antvari herantrat und ihm, gerade so laut, dass Januão es hören konnte, zuflüsterte: «Sidi, lass uns von hier fortgehen, bevor die Pferdeburschen merken, dass deine kleine Tochter nicht um ihr Pferd gezittert hat.»
Antvari stellte Zaiira wieder auf ihre Füße, und Januão sagte laut: «Nun hör auf zu weinen, Zaiira. Dshalla ist nichts geschehen. Ich habe sie gründlich untersucht. Sie ist nicht verletzt, überhaupt nicht. Und sei nicht mehr traurig, dass sie dir davongelaufen ist. Das ist doch nicht so schlimm.»
Er schob sie sachte zu ihrem Pferd und leise flüsterte er ihr zu: «Dshirah ist in Sicherheit.»
«Nein», Zaiira musste husten, erst dann konnte man sie verstehen, und sie sprach jetzt laut genug, dass alle sie hören konnten. «Nein, das ist nicht so schlimm. Sie ist ja wieder da. Bringt sie in den Stall.»
«Tazihlo», sagte Antvari, «wir sind dir zu größtem Dank verpflichtet, weil du das Pferd gleich heute Abend gebracht hast. Dies wäre eine schlimme Nacht geworden. Kommt und trinkt noch einen Tee mit uns. Wir brauchen keine Bedienung. Die Siada wird den Tee selber bereiten.»
Erst jetzt entdeckte Januão Zaiiras Mutter. Sie stand abseits, reglos. Ihr Gesicht konnte man nicht sehen. Sie hatte den Schleier bis tief über die Augen gezogen. Sidi Antvari ging voran. Er führte sie in seine Arbeitsräume. Die Siada huschte lautlos