Die Siebte Sage. Christa Ludwig
sie aufwachsen wie einen Sohn. Im Arbeitszimmer setzte sich die Siada abseits auf ein Kissen. Sie nahm den Schleier vom Gesicht, sagte nichts, bereitete auch keinen Tee, saß nur da mit großen, dunklen, erschrockenen Augen. So schaute sie aus einem dunkelroten Gewand heraus, das ihr über die Füße und halb über das noch dunklere Sitzkissen fiel. Obwohl niemand sprach, schien sie noch stiller als die anderen. Zaiira hielt sich dicht neben ihrem Vater. Keiner verlangte Tee.
Sidi Antvari setzte sich. Langsam schob er sich die Kissen zurecht, breitete seinen hellroten Mantel darüber – er machte es sich behaglich, wie man es bei den Araminen gewohnt war. Aber dass er nicht nach Tee verlangte, störte die Gemütlichkeit. Und dass eine Frau im Zimmer war, passte noch weniger zu einem Gespräch in den Arbeitsräumen eines araminischen Fürsten. Und wie diese Frau – dunkelrot mit schwarzen Augen – saß und schaute, das passte zu gar nichts im ganzen Kalifenreich. Araminische Fürstinnen hatten keine Angst.
«Tazihlo», begann Sidi Antvari, «meinen Dank habe ich ausgesprochen. Nun schuldest du mir eine Erklärung.»
Tazihlo nickte, aber er antwortete nicht. Da schnallte Januão die Sandalen vom Gürtel, gab sie Zaiira zurück und fragte: «Was weißt du?»
«Ich habe am Fenster gestanden», sagte Zaiira, «den ganzen Abend. Und ich habe Polizisten gesehen. Zwölf. Sie kamen von euch. Da wohnt doch niemand sonst.»
«Sie kamen von uns», nickte Januão, «aber ich sage dir nicht, was sie wollten. Du sollst sagen, ob du es weißt.»
«Ich weiß es», flüsterte Zaiira.
Und da berichteten sie, Tazihlo, Januão und Zaiira, sie erzählten alles. Danach saßen sie noch genauso im Raum: Zaiira kauerte auf ihrem Kissen und zitterte wie zuvor im Patio, ihr Vater sah noch immer gelassen aus, lehnte scheinbar entspannt an einem kleinen Teetisch, auf dem jedoch der Tee fehlte, und auch die Siada hatte sich nicht verändert, denn noch verschreckter konnte sie nicht aus ihren schwarzen Augen schauen.
«Ihr dürft nicht zu eurem Haus zurück», sagte der Sidi. «Wenn morgen die Soldaten kommen, müsst ihr fort sein. Ich überlege, wo ich euch einige Wochen verbergen könnte, bis es für euch möglich wäre, nach Afrika zu fliehen. Ich habe einige Landgüter in der Ebene und Jagdhäuser im Gebirge.»
«Das darfst du nicht, Herr», sagte Tazihlo. «Sie werden auch die Jagdhäuser in der Sierra untersuchen. Es wäre gefährlich für deine Familie. Sehr!»
Antvari nickte. «Dshirah ist die Einzige, die in Sicherheit ist. Du bist wirklich klug, Januão.»
«Aber sie kommt nie wieder raus!», rief Januão. «Nie!»
«Könnt ihr nicht morgen, gleich früh, alle nach En-Wlowa?», überlegte Antvari.
«Ich nicht», Januão schüttelte den Kopf. «Ich muss die Pferde vorbeipfeifen.»
«Dich könnte ich am ehesten als Pferdeburschen auf einem meiner Gestüte verstecken. Du, Tazihlo, bist am meisten gefährdet. Alle, die mit Halbblutpferden zu tun haben, kennen dein Gesicht.»
«Ihr denkt falsch.»
Das war die leise Stimme der Siada.
Januão schaute sich erst suchend im Zimmer um. Er hatte vergessen, dass da noch jemand war. Und keiner hatte von dieser Frau ein Wort erwartet.
Die Siada sprach leise weiter, ruhig und ohne Zittern in der Stimme: «Wenn ihr jetzt flieht, seid ihr verloren. Sie finden euch. Sie werden suchen, bis sie euch finden. Was wir brauchen, ist ein bardisches Mädchen, das sie für eure Tochter halten und das nur fünf Zehen hat. Davon gibt es schließlich genug.»
«Du meinst, wir sollen irgendein bardisches Mädchen als Tazihlos Tochter ausgeben?», fragte der Sidi. «Gut, ja, das ist gut. Wir haben den Vormittag Zeit, eine bardische Familie zu suchen, die bereit wäre, euch zu helfen. Aber was ist, wenn sie fragen und forschen, wo Dshirah diese Nacht gewesen ist? Es ist doch verdächtig, dass sie nicht nach Hause gekommen ist.»
«Sie werden nicht forschen», sagte die Siada. «Wir erzählen ihnen, Dshirah sei bei der Flucht vor den Jungen über die Dächer geklettert und gestürzt. Ein Spiel mit einem bösen Ende, mehr nicht. Morgen früh, Tazihlo, wird ein Bote aus dem Krankenhaus euch einen Hirtenkittel mit eurem Zeichen bringen und fragen, ob er Dshirah gehört. Wir müssen den Kittel noch heute Nacht in das Krankenhaus schaffen. Und morgen führen wir die Polizisten oder Soldaten, wen immer sie schicken, zu jenem Kind, das ich heute besucht habe.»
Wer sehr genau hinschaute, konnte erkennen, dass Sidi Antvaris Hand jetzt wirklich entspannt auf dem Teetisch lag. Er lächelte und sagte: «Das ist deine Mutter, Zaiira. Es ist nicht das erste Mal, dass sie es ist, die den kühnsten und klügsten Gedanken hat. Sprich weiter, Amira.»
«Ein elfjähriges Mädchen ist heute von einem Baum gefallen. Es hat sich ein Bein gebrochen. Und es hat eine Kopfverletzung, die schlimm aussieht, aber es ist nicht gefährdet. Zu diesem Kind werden morgen die Männer geführt, die nach Dshirah suchen. Tazihlos Frau wird an ihrem Bett sitzen.»
«Und die wirkliche Mutter des Kindes?», unterbrach Antvari.
Die Siada zuckte die Achseln.
«Die müssen wir betrügen, es tut mir leid. Der Arzt könnte ihr sagen, dass sie ihr Kind jetzt nicht besuchen kann, weil er das Bein operieren muss. Nur eine kleine Operation, nur am Bein, nicht am Kopf. Wir wollen die Mutter nicht ängstigen.»
«Aber das Kind selber. Was wird es sagen?»
«Nichts. Es bekommt Opium, tut mir leid. Schmerzmittel geben sie ihm ohnehin. Dann kriegt es eben ein bisschen mehr. Es wird ihm nicht schaden. Der Arzt ist sehr gut.»
«Der – Arzt», begann Tazihlo zögernd, «er ist ein Barde?»
«Er ist Aramine», sagte die Siada, «und das ist gut. Ich weiß nicht, ob wir einen Barden für diesen Plan gewinnen könnten. Ich würde es auch nicht gern tun, denn er wagt viel. Dieser Arzt wird euch helfen. Er ist ein Aramine mit Herz und zerbissener Zunge.»
Januão verstand. Alle hatten verstanden. Bis auf Zaiira. Die starrte ihre Mutter an.
«Hast du keine Angst?», fragte sie. «Warum hast du auf einmal keine Angst?»
Amira lächelte. Sie sah ein wenig traurig aus.
«Meine Tochter kennt mich nicht», sagte sie. «Da habe ich dem Haus Al-Antvari keinen Sohn geboren. Das ist schlimm genug. Nun habe ich eine Tochter, und sie wächst mit ihrem Vater auf wie ein Sohn und kennt mich nicht. Nein, Zaiira, wenn ich weiß, dass es richtig ist, was ich tue, habe ich nie Angst. Und ein Aramine kann nichts Richtigeres tun als seine Zunge zerbeißen.»
‹Ein Aramine mit Herz zerbeißt seine Zunge.›
Alle im Land kannten diesen Satz. Nicht alle wussten, was er bedeutete. Ihren Kindern erzählten die Araminen es nicht gern. Sidi Antvari stand auf.
«Wir müssen es ihr jetzt sagen.»
Zaiira war sehr blass, aber sie hob den Blick und schaute zu ihrem Vater auf.
«Zaiira, deine Familie ist vornehm, aber nicht gut. Die Antvaris gehörten zu jenen Araminen, die vor vierhundert Jahren den Barden ein grausames Unrecht zugefügt haben. Damals hat man den Barden ihre Bücher verbrannt, ihre Sprache und ihre Schrift verboten. Nur sechs von den Sieben Sagen haben sie vorher aufgeschrieben, die haben ihnen gefallen, warum auch immer.»
«Du meinst, die Sieben Sagen sind wirklich bardisch?»
«Wir vermuten es. Aber es ist nicht ratsam, das laut zu behaupten. Vor ungefähr fünfzehn Jahren haben das welche getan. Sie haben es bereut.»
«Aber warum ist die Siebte Sage verloren gegangen?»
«Das ist sie nicht, glauben wir. Mit wir, Zaiira, meine ich jetzt nicht die Araminen in den Gerichtssälen oder an den Schulen. Es gibt ein heimliches Bündnis unter Araminen. Wir nennen es: ‹Ein Aramine mit Herz zerbeißt seine Zunge›. Und wir sind ziemlich sicher, dass die Siebte Sage damals vernichtet wurde, verboten, vernichtet, sie passte nicht in das Reich