Die Siebte Sage. Christa Ludwig

Die Siebte Sage - Christa Ludwig


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ging sie niemals allein. Sie stand immer mit Una und Juja in der Schlange vor dem Brunnen. Manchmal kamen ihnen Kinder entgegen. Mit denen tauschte Dshirah dann einen Blick, aber stehen blieb sie nicht. Sie versuchte immer zu zählen, wie viele Kinder es gab, doch die sahen alle gleich aus. Una, Juja und Dshirah wurden von niemandem gegrüßt, nur die freundliche Frau, die Dshirah an ihrem ersten Morgen hier geholfen hatte, nickte ihr zu.

      Es begegneten ihnen Menschen, wie Dshirah noch keine gesehen hatte.

      «Die haben die Pocken gehabt», erklärte Una. «Schau sie dir nur an. Das ist eine gar nicht so seltene Krankheit. Wer sie überlebt, hat solch ein zerstörtes Gesicht.»

      «Ist das ansteckend?», fragte Dshirah. «Wie Husten?»

      Una lachte.

      «Du kennst nichts Schlimmeres als Husten, ja? In der Hauptstadt des Kalifen gibt es keine Kranken. Wer krank wird oder hässlich durch Pocken, verschwindet.»

      «Wohin? Kommen die alle nach En-Wlowa?»

      Hässliche Leute gab es hier genug.

      «Nein», sagte Una. «Es gibt in den Bergen Häuser für die Kranken. Da werden sie gut versorgt. Aber sie dürfen nicht zurück in die Stadt. Wer trotzdem geht, ist dann bald hier. Die einzigen hässlichen Menschen, die sich im Reich des Kalifen sehen lassen dürfen, sind die Sänger im Frauenpalast.»

      «Warum?», fragte Dshirah und bekam keine Antwort.

      Mitten auf der Gasse lag einer und schlief. Er hatte viele Fliegen im Gesicht. Dshirah schaute zu ihm zurück, aber Una zog sie weiter. Dshirah schwieg, bis sie den Platz erreichten.

      «Warum ist die Statue von Armei dan Hasud dreckig?», fragte sie. «Warum kommt niemand und hält sie sauber?»

      «Die Leute hier mögen Armei dan Hasud nicht besonders», sagte Una.

      «Aber man muss ihn grüßen», verlangte Dshirah.

      Da war es Una, die fragte: «Warum?»

      «Weil – weil er der klügste Mann aller Zeiten war.»

      «Das war er», nickte Una, «und der dümmste.»

      Dshirah starrte sie entsetzt an.

      «Glaub mir, Dshirah», sagte Una, «Klugheit schützt nicht vor Dummheit. Merk dir das.»

      Und jeden Tag holten sie frische Blüten, umsummt von den Fliegen, an der Blumenmauer. Juja saß den größten Teil des Tages im Schatten und färbte Kleider, denn die Farbe verblasste immer schnell in der Sonne. Sie wollte auch Dshirahs Hemd färben, aber Una verbot es. «Die Farbe hält nicht im Wasser», sagte sie. «Du kannst dich dann nicht mehr mit dem Hemd waschen.» Aus Stoffen, die sie immer mal wieder hingeworfen bekamen, nähte Una neue Hemden. Sie hatte nur ihre kurze Nadel. Die Fäden musste sie aus den Stoffen herausziehen. Messer oder Scheren gab es nicht. Sie bissen mit den Schneidezähnen so lange auf den Stoffen herum, bis man sie reißen konnte. So vergingen die Tage.

      Dshirah hatte ein kleines Stück Holz gefunden und malte damit Zeichen in den Dreck.

      «Was malst du da?», fragte Una. «Das kenne ich nicht.»

      «Mein Vater hat es mir gezeigt. Es ist ein altes bardisches Zeichen. Es ist noch älter als unsere Schrift. Ich glaube, es bedeutet ‹Leben›.»

      «Kannst du noch mehr?»

      «Nein oder vielleicht. Mein Vater hat mir noch mehr gezeigt, aber ich habe alles vergessen.»

      Una hockte sich neben sie.

      «Das möchte ich lernen», murmelte sie.

      «Warum?», fragte Dshirah.

      «Ja, warum?» Una zog mit dem Stock die Linien nach. «Das sollte ich vergessen.»

      Das Baden wurde täglich schwieriger. Zu viele wussten inzwischen, dass Dshirah von Una begleitet wurde und es also keineswegs nötig hatte, mit Kleidern ins Wasser zu gehen. Und so kam der Morgen, an dem Shenja und ihr Pack im Bach saßen und sofort aufsprangen, als Dshirah vorsichtig aus dem Schatten einer Hauswand trat. Sie hatten auf sie gelauert. Dshirah floh zurück zu Una.

      «Da ist Shenja», keuchte sie, «ich glaube, das ist Shenja.»

      Und schon waren sie von nackten Frauen umstellt, die böse grinsten.

      «Heute zieht sie das aus», sagte Shenja. «Kleider werden weiter unten gewaschen. Sie verdreckt uns das Wasser mit ihrem fleckigen Hemd.»

      Die anderen nickten, grinsten, kamen näher. Una nahm Dshirah in die Arme.

      «Lass sie los!», verlangte Shenja. «Wir ziehen sie aus. Wir nehmen ihr nichts weg.»

      «Ihr rührt das Kind nicht an», sagte Una langsam und sehr deutlich.

      «Gut», nickte Shenja, «zieh du sie aus. Wir wollen nichts von ihr. Wir wollen nur wissen, ob sie auch so eine ist wie du und Juja.»

      «Bedeckt euch!», forderte Una. «Ich rede nicht mit nackten Frauen.»

      Einige lachten, aber verstummten, als Una sie anschaute, einer nach der anderen lange und gerade in die Augen schaute. So gingen sie, schlüpften in ihre Kittel, hüllten sich in ein Tuch. Aber immer blieben so viele zurück, dass sie ihren engen Kreis um die beiden schließen konnten. Una fasste Dshirah an den Schultern, drehte sie den Frauen zu, sagte: «Sie ist keine von denen. Sie trägt einen gewöhnlichen Kittel, und das Zeichen ihrer Klasse ist abgerissen.»

      «Jeder kann so ein Hemd anziehen», sagte Shenja. «So ein Kittel geht von einem zum anderen. Das Zeichen aber bleibt immer bei dem, der es hat. Wir wollen es sehen.»

      «Es gibt nichts zu sehen.»

      «Dann wollen wir sehen, dass es nichts zu sehen gibt.»

      Unas Hände lagen fest auf Dshirahs zitternden Schultern.

      «Los!» Shenja trat vor. «Sonst mache ich das.»

      Unas Hände streichelten Dshirahs Oberarme. Ihre Daumen glitten unter den Stoff auf den Schultern, hoben ihn hoch –

      Nein! Dshirah schrie nicht. Sie stand vollkommen stumm und steif und still. Aber in ihr schrie es: Nein! Und: Weg! Fort von diesen neugierigen Blicken, grinsenden Mündern. Fort! Wohin? Konnte sie sich ducken und zwischen zwei mageren Frauenhüften aus dem Kreis brechen? Und dann fliehen? Wohin? Weg von Una, der einzigen Hilfe, die sie in diesem Gefängnis hatte? Hätte sie Una alles erzählen sollen? Die wollte ihr nichts Böses. Die würde sie nicht ausziehen vor diesen Frauen, wenn sie wüsste, dass –

      Sie hätte ihr alles erzählen sollen. Es war zu spät.

      «Komm», flüsterte Una ihr zu, «heb die Arme. Komm. Sie gehen dann gleich fort.»

      Dshirah presste die Arme an den Körper. Es war ja nicht das Hemd, das ihr Geheimnis verbarg. Aber wenn sie das Hemd ausgezogen hatte, konnte sie nicht mehr fliehen.

      «Nun!?», lauerte Shenja.

      Unas Hände waren so ruhig und so warm. Dshirah schmiegte sich in diese lieben, freundlichen Hände und Arme, die so gut zu ihr waren, die ihr immer geholfen hatten. Ihre Arme lösten sich vom Körper. Una zog ihr den Kittel über den Kopf.

      Und dann – stand sie da, sah, wie Shenja enttäuscht die Achseln zuckte und verlangte: «Dreh sie um!»

      Una drehte sie um, und Dshirah vergrub sofort das Gesicht in ihrer Brust. Wie aus weiter Ferne hörte sie: «Also nichts.»

      Und Una sagte: «Was hättet ihr denn mit ihr gemacht?»

      «Nichts. Wir wollten es nur wissen.»

      Una schob Dshirah etwas von sich und ließ ihr den Kittel wieder über den Körper gleiten. Und Dshirah spürte, wie sich die lauernden Blicke von ihrem Rücken entfernten.

      Gingen die fort? Ohne ihr die Schuhe …?

      Sie zitterte, weinte, heulte, schluchzte, bis es Unas Händen gelang, sie ruhig zu streicheln.

      «Ich


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