Die Siebte Sage. Christa Ludwig
«Das war sehr lieb, was du Juja gesagt hast», flüsterte sie. «Du hast es ja sicher gemerkt, sie ist vor Sehnsucht nach ihrem Kind ganz krank im Kopf geworden.»
«Warum sind hier gute Menschen?», fragte Dshirah. «So wie du?»
«Hier sind Mörder, Diebe und Betrüger», antwortete Una. «Und Betrüger sind in Al-Cúrbona alle, die etwas gesagt oder getan haben, das dem Kalifen oder seinen Ministern nicht passt.»
«Aber warum rennt ihr nicht weg? Wenn man in einer dunklen Nacht durch das Loch geht, können die Wächter doch nicht schießen.»
Una lachte kurz und hart. «Nachts ist das Loch bewacht. Sie geben es nur frei, wenn sie auch schießen können.»
«Und warum könnt ihr nicht über die Mauer?», schlug Dshirah vor. «Könnt ihr nicht Leitern bauen?»
Aber Una schüttelte den Kopf.
«Das haben schon welche versucht. Niemand kommt durch diese Blumen. Der Duft macht dich ganz wirr im Kopf, und die Fliegen bringen dich um.»
«Aber im Winter? Die können doch nicht das ganze Jahr blühen.»
«Es sind fast immer Blüten da. Nur zwei Monate sind sie kahl. Und dann haben sie Stacheln – du kannst es jetzt noch nicht gemerkt haben, das fängt erst im Sommer an – fingerlange Stacheln, lauter kleine Dolche. Es kommt niemand durch. Kalif Hisham hält uns gefangen in bunter Blumenpracht. In den Geschichtsbüchern wird stehen, dass er ein guter Herrscher war, der seine Gefangenen von Blumen bewachen ließ. Aber das hat sein Vater ja auch schon getan und der –»
Sie sprach nicht weiter. So gingen sie durch die Gassen, die erst sandig, dann immer steiniger wurden. Einmal kam ihnen ein Kind entgegen, Dshirah wusste nicht, ob es dasselbe war wie vorhin, es sah genauso aus, aber die anderen Menschen sahen auch alle gleich aus. Sie bogen um eine Ecke. Vor ihnen war ein Bach. Das Wasser sprudelte aus einer Felsengrotte, wahrscheinlich war es dasselbe, das draußen vor dem Hügel in unterirdischen Höhlen verschwand, da, wo sie gestern die beiden Pferde angebunden hatten. Es floss zur Blumenmauer und verschwand durch ein vergittertes Loch. Auch das Wasser des Brunnens kam sicher aus diesem Bach. Da waren viele Frauen. Sie wuschen sich, und andere hielten ihre Hemden mit den Schalen. Alle Frauen im Wasser waren nackt.
Und keine hatte Schuhe an.
Ein Aramine mit Herz zerbeißt seine Zunge
Januão, die Flöte spielend auf seiner falbgelben Stute, sah zwei kleine Punkte zwischen dem Hügel und der Blumenmauer rennen. Seine Augen folgten Dshirah, die in das Gefängnis hineinlief. Nur im Winkel, fast im toten Winkel seines Blicks nahm er den anderen Punkt wahr, der aus En-Wlowa floh. In einer fernen Ecke seines Gehirns wunderte er sich ein wenig, denn seine Gedanken waren bei der Schwester. Nur ein kleines Erstaunen war da. Bisher war noch nie jemand geflohen, wenn er die Pferde diesen Weg entlang lockte. Aber warum nicht? Sie konnten im Lager inzwischen gemerkt haben, wie leicht während des Flötenspiels die Flucht war. Und nicht die entlegenste Gehirnwindung gab Januão eine Warnung, dass dieser winzige fliehende Punkt gefährlich werden könnte. Er musste ja auch Flöte spielen, nicht denken, spielen. Und nicht weinen jetzt. Er kämpfte die Tränen zurück. Das konnte er gut, denn das war er gewohnt. Jungen, die älter als fünf Jahre waren, durften in Al-Cúrbona nicht weinen. Manchmal wünschte er sich, ein Mädchen zu sein. Vielleicht war er der einzige Junge im Reich des Kalifen, der diesen völlig abwegigen Wunsch hatte. Oder war es möglich, dass es noch mehr gab, die so leicht weinten wie er? Ob das in Afrika erlaubt war? Er fühlte eine kleine, sehr kleine Freude.
Er sah den Dshirah-Punkt hinter den Blumen verschwinden. Da konnte er etwas aufatmen, und in sein Trauer-Klage-Todeslied mischten sich ein paar helle Töne. Die spürte er in seinen Fingerspitzen.
«Januão kann Musik anfassen», sagte seine Mutter immer.
Aber der Dshirah-Punkt kam zurück, kam wieder heraus aus den Blumen – oder war das ein anderer? Noch ein Flüchtling aus En-Wlowa? Aber warum lief der nicht weiter? Januão spielte, um den Punkt zurückzudrängen in die Blütenmauer, denn es war Dshirah, er sah es nicht, er spürte es. Aber trieb er sie wirklich mit seinem Spiel nach En-Wlowa hinein? War es nicht eher so, dass er sie zurückhielt? Er ließ die Flöte sinken. Da erreichten ihn auch schon die Pferde. Je-ledla lief voraus. Er beachtete sie nicht. Er sah den Punkt wieder in den Blumen verschwinden. Langsam wendete er sein Pferd.
Er führte die Herde nicht auf geradem Weg nach Haus, sondern ritt einen kleinen Bogen, Silbão entgegen. Der musste nun in die Stadt zurück laufen, denn Januão nahm seine beiden Pferde mit. Es wurde dunkel. Als er sein Elternhaus erreichte, hatte sich dort wenig geändert. Die elf Polizeipferde standen jetzt im Schatten. Sie hoben die Köpfe, als die Herde vorbeikam, eines schnaubte, eines wieherte, aber sie taten keinen Schritt.
Januão ließ die Stuten auf die Koppel. Je-ledla leckte an den salzigen Steinen, der Hengst begrüßte Dshalla. Januão ging von einem zum anderen, schaute, ob sie Wunden hatten und hob ihre Hufe. Da kam einer der Polizisten in die Koppel.
«Du hast die Pferde geholt?», fragte er.
«Das mache ich jeden Abend», nickte Januão.
«Deine Schwester hast du nicht gesehen?»
«Nein. Ist sie immer noch nicht da?»
«Nein. Was glaubst du, wo sie ist?»
«Das haben wir doch gesagt. Bei einer Freundin in der Stadt. Wahrscheinlich bleibt sie über Nacht. Sie ist so glücklich, dass sie zur Schule gehen darf. Wir leben hier ganz allein.»
Der Mann nickte.
«Du kommst in den Patio», bestimmte er.
«Darf ich erst die Pferde versorgen?»
«Ja.»
Januão beeilte sich. Es hatte keinen Sinn mehr, die Zeit zu verzögern. Dshirah war in Sicherheit. Als er in den Patio trat, zündete seine Mutter gerade die Öllampen an.
«Wann hast du deine Schwester zuletzt gesehen?», fragte der Polizeioffizier.
«Heute Morgen. Das habe ich doch schon alles erzählt.»
«Erzähl es noch einmal.»
«Wir sind zusammen mit der Herde bis zum Stadtrand geritten. Das machen wir meist so. Von da muss sie laufen. Ich bringe die Pferde auf die Weideplätze.»
«Warum bist du nicht zur Schule gegangen?»
«Ich bin ein guter Schüler. Ich gehe nicht jeden Tag zur Schule.»
«Was für Schuhe hatte deine Schwester an?»
Januão zögerte. Jetzt musste er aufpassen.
«Ihre leichten Lederschuhe, glaube ich. Ja, natürlich. Ihre Sandalen sind doch hier. Sie hat nur das eine Paar Sandalen.»
Er merkte, wie seine Mutter ihn von der Seite sehr aufmerksam beobachtete, aber er schaute sie nicht an.
«Warum trägt sie in der Stadt nie Sandalen», fragte der Offizier.
«Natürlich trägt sie in der Stadt Sandalen, aber …», sagte die Mutter sehr schnell.
Der Polizist unterbrach sie: «Ich habe den Jungen gefragt. Nun!»
«Natürlich trägt sie in der Stadt Sandalen», Januão sprach ruhig, er war jetzt nicht aufgeregt. Dshirah war in Sicherheit, und was er hier zu antworten hatte, wusste er, sie hatten das geübt, die Mutter hatte ihm das Stichwort gegeben.
«Wenn wir bis zur Stadt reiten und auch wieder zurück, zieht sie gern Sandalen an. Aber von der Schule zurück muss sie laufen, und dann will sie immer geschlossene Schuhe haben. Sonst kommen ihr Steine rein. Dshirah stellt sich ein bisschen an. Sie mag auch nur ganz feine Wolle auf der Haut.»
«Der kleine bardische