Die Siebte Sage. Christa Ludwig

Die Siebte Sage - Christa Ludwig


Скачать книгу
Wenn dann das Licht durch das Loch im Scheitel der Kuppel schien, erstrahlte der Raum, und wenige Herzschläge lang wirkten die zerstörten Wände wie die Spitzenschleier, hinter denen der Kalif seine Frauen verbarg. Juja, die sich neben Dshirah auf den Boden hockte, war plötzlich schöner als ihr Bruder.

      «Wie geht es meinem kleinen Abdalameh?», fragte sie.

      «Abdalameh?», flüsterte Dshirah.

      Das war ein Kalifenname. Selbst den vornehmsten Fürsten war es verboten, ihren Söhnen diesen Namen zu geben. Auch Zaiiras Bruder, hätte sie einen gehabt, wäre nicht Abdalameh genannt worden.

      «Wer?», stammelte Dshirah. «Ich weiß nicht …»

      Und genauso war das in der alten Bardenburg: Wenn das Mittagslicht über der Kuppel weiter wanderte, wurde die Burg wieder zur Ruine, ihre Schönheit war nur noch Erinnerung. Jujas Gesicht zerfiel in fremde, traurige Augen und zitternde Lippen.

      «Komm mit», sagte die fremde Frau und reichte Dshirah eine Hand. Auch ihr Kleid war farbig, zwar nicht so voller bunter Flecken wie Jujas, aber blau, ein scheckiges Blau wie ein gefleckter Himmel mit ein paar grauen Wolken darin. Es tat Dshirah gut, an einer Hand zu gehen, dicht neben jemandem einfach mitzugehen. Sie kamen zu einem kleinen Verschlag.

      «Hier leben wir», sagte die alte Frau. «Wenn man das leben nennen kann. Es gibt bessere Hütten, aber hier will außer uns keiner rein. Wir wollen allein sein. Weil Silbão manchmal kommt. Du kannst auf seinem Platz schlafen.»

      Juja fasste Dshirahs Hand. Sie ließ das Bündel mit den bunten Flecken los. Es fiel auf den Boden und öffnete sich. Es war voller Blüten von der Blumenmauer. Juja achtete nicht darauf. Sie schaute Dshirah mit flehenden Augen an und sagte: «Wie geht es meinem kleinen Abdalameh?»

      Dshirah wollte gern die Hand wegziehen und vor Jujas Augen weglaufen. Sie kannte keinen Abdalameh. Wie sollte sie so einen kennen? Und sie spürte, es war für Juja ein entsetzliches Unglück, wenn sie auf diese Frage keine Antwort bekam. Dshirah warf der alten Frau einen hilflosen Blick zu. Die sammelte die Blumen wieder in das Tuch, schob Juja sanft in eine Ecke, gab ihr die Blüten und ein graues Stück Stoff. Und Juja begann, den Blütensaft in den Stoff zu drücken, bis der Stoff und ihre Hände so bunt waren wie die Vögel, die zum Geburtstag des Kalifen in goldenen Käfigen auf der Plaza de las Poemas aufgehängt wurden. Da wandte sich die alte Frau wieder Dshirah zu.

      «Du kannst mich Una nennen», sagte sie. «So heiße ich nicht, aber ich bin seit vielen Jahren hier, und ich hoffe noch immer, es wird mir eines Tages besser gehen, wenn ich mein früheres Leben und meinen Namen vergessen habe. Denn raus komme ich hier nicht mehr.»

      «Warum bist du …», wollte Dshirah fragen. Aber Una unterbrach sie.

      «Frag mich nicht, dann frage ich dich auch nicht.»

      Dshirah nickte heftig. Das war ihr sehr recht.

      «Aber warum Juja hier ist, muss ich dir erzählen», fuhr die Frau fort. «Woher hast du die Schale? Silbão hatte nie eine.»

      Dshirah berichtete.

      «Das ist gut», sagte Una. «Zieh das Hemd aus.»

      Dshirah gehorchte. Una nahm das Hemd, stülpte es um und zog es Dshirah wieder an. Aus einer Ecke holte sie einen Fetzen Stoff, eine grobe Nadel und Faden. Sie biss und zerrte mit den Zähnen an dem Stoff herum, bis sie den Fetzen noch etwas kleiner genagt hatte.

      «Messer haben wir nicht», erklärte sie, «Scheren auch nicht.»

      Auf Dshirahs Brust nähte sie eine Tasche, steckte die Schale hinein, Dshirah musste das Hemd wieder ausziehen und wenden. Nun trug sie die Schale innen auf der Brust.

      «Das ist hier Pflicht», erklärte Una. «Wer seine Schale verliert, ist tot.»

      Juja hockte in einer Ecke. Sie sang leise vor sich hin. Dshirah erkannte die Melodie. Es war ein altes Kinderlied, aber Juja sang immer nur ein einziges Wort: «Abdalameh, Abdalameh …»

      «Er ist ihr Sohn», flüsterte Una, und Dshirah erschrak. Das konnte nicht wahr sein.

      «Juja war einmal sehr schön», erzählte Una.

      «Ich weiß», Dshirah nickte.

      «Der Kalif», fuhr Una fort, «sah sie, als sie auf dem Markt Ziegenkäse verkaufte. Er lässt sich ja manchmal durch die Straßen tragen, schaut, verborgen hinter seinem Spitzenstoff, und nimmt alles mit, was ihm gefällt: Früchte, Blumen, Krüge, Stoffe, Pferde, Frauen, Windhunde …»

      Juja sang noch immer ‹Abdalameh, Abdalameh›, aber die Melodie änderte sich. Die Töne wurden länger und tiefer. Aus dem Kinderlied wurde ein Klagegesang. Una wandte ihr den Kopf zu und sang mit. Sie machte die Töne erst lauter und voller, dann wieder rascher, heller, bis ihre raue Stimme hüpfte und Juja jubelte: «Abdalameh! Abdalameh!» – ein Lied für fröhliche Kinder beim Spielen. Una rückte etwas näher an Dshirah heran. Sie sprach sehr leise: «Der Kalif ließ sie holen. Als eine seiner Nebenfrauen. Sie sollte sein dreizehntes Kind gebären. Das dreizehnte Kind des Kalifen wird gut versorgt, aber es bekommt keine Macht. Doch Juja wurde zu früh schwanger.

      Sie gebar das zwölfte Kalifenkind. Und es ist ein Junge. Vielleicht, wenn es ein Mädchen wäre – vielleicht säße Juja im Palast und hielte ihr Kind am Arm. Aber wenn das zwölfte Kind des Kalifen ein Sohn ist, erbt er die Länder in Afrika. Da haben sie Juja verurteilt. Erbbetrug werfen sie ihr vor. Sie sagen, sie hätte sich mit diesem Kind Reichtum und Macht ergaunern wollen.»

      Jujas Lied war wieder von Dur nach Moll geglitten. Una sang mit, bis aus dem Trauergesang ein Tanzlied wurde.

      «Silbão kommt alle paar Monate», flüsterte sie Dshirah zu, «und erzählt ihr, dass es Abdalameh gut geht. Ich glaube nicht, dass er ihn je gesehen hat, aber es ist trotzdem keine Lüge. Wenn Jujas Sohn krank würde, müssten alle trauern im Land. Ihr Kind erbt Afrika, das kann auch Kalif Hisham nicht mehr verhindern. Dass Abdalameh so schön wird wie seine Mutter, mag ihm recht sein, aber der Kleine wird gewiss auch genauso lieb.»

      Und vielleicht nicht sehr klug, dachte Dshirah.

      Als Jujas Stimme wieder dunkel wurde, zog Una an Dshirahs Arm.

      «Schnell! Sag ihr, dass es ihm gut geht. Ich kann nicht den ganzen Tag mit ihr singen, und es ist entsetzlich, wenn sie noch trauriger wird, es ist furchtbar. Ich kann es nicht ertragen.»

      «Juja», sagte Dshirah, «Abdalameh geht es gut. Er …»

      Wie alt konnte das Kind jetzt sein? Seit fast zwei Jahren war Juja verschwunden. Was hatte sie selber gemacht, als sie zwei war? «… er hat ein weißes Maultier bekommen und winkt immer, wenn es durch die Straßen geführt wird.»

      Vielleicht stimmte das sogar. Vor einem Monat hatte sich die Familie des Kalifen offen in der Stadt gezeigt, und auf einem weißen Maultier hatte ein kleiner Junge gesessen, der schöner war als die anderen Kalifenkinder. Juja jubelte einen kleinen Triller. Dann blieb sie still in der Ecke sitzen, lächelte vor sich hin, und ihre bunten Hände lagen zwischen den letzten heilen Blüten.

      «Gut», sagte Una. «Nun zu dir. Hast du heute gegessen?»

      Dshirah schauderte.

      «Ja», nickte sie, «aber …»

      Und sie erzählte, wo der Brei geblieben war.

      «Silbão holt mich bald wieder hier raus», sagte sie. «So lange muss ich nichts essen. Wasser reicht mir.»

      Una schüttelte den Kopf.

      «Du musst Kraft haben, wenn du zum Hügel rennst. Willst du dich waschen?»

      «Man kann sich waschen?» Dshirah hob den Kopf.

      «Nicht alle tun es, aber man kann, wenn man jemanden hat, der das Hemd mit der Schale solange hält. Komm. Jetzt ist Frauen-Waschzeit.»

      Sie gingen durch die Gassen. Die sahen für Dshirah jetzt schon ganz anders aus. Ja, sie würde essen. Sie würde Kraft haben und zurücklaufen. Sie würde ihren Bruder wiedersehen und den Vater und die Mutter


Скачать книгу