Stalingrad - Die stillen Helden. Reinhold Busch
letzte Hauptverbandplatz der 16. Panzer-Division im „Schnellhefterblock“
Der letzte Hauptverbandplatz der 60. Infanterie-Division im „Schnellhefterblock“
Im Keller der Fabrik „Roter Oktober“
Letzter Hauptverbandplatz der 1. Sanitäts-Kompanie 40 im Traktorenwerk
Im Kellerraum der Brotfabrik: Dr. Rocholl
Die Gefangennahme – Das Ende des Nordkessels
Warum kehrten nur 6000 von 91.000 Soldaten heim? Die Frage nach der Schuld
Vorwort
Vor etwas über 75 Jahren endete eine der schlimmsten Tragödien des Zweiten Weltkriegs: der Kessel von Stalingrad am 31. Januar (Südkessel) und am 2. Februar 1943 (Nordkessel). Die Überreste der einst stolzen 6. Armee, noch 91.000 Mann, fast alle halbverhungert, verwundet, krank oder mit Erfrierungen, traten den Marsch in die Gefangenschaft an, die die meisten nicht überleben sollten.
Über Stalingrad sind zahlreiche Bücher und Aufsätze geschrieben worden. Viele der Überlebenden schrieben ihre Erlebnisse auf; wenige hinterließen Tagebücher. Leider wurde nur sehr wenig über die Sanitätseinheiten veröffentlicht – zu Unrecht, denn die viel zu wenigen Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Pfarrer und Sanitätsdienstgrade spielten eine immer größere Rolle, je dramatischer sich die Lage entwickelte. Zuletzt führten sie einen aussichtslosen Kampf mit unzureichenden Mitteln um von Hunger geschwächte und ausgezehrte Kranke und Verwundete, unter furchtbaren hygienischen Bedingungen und unter ständigem Beschuss in den Lazaretten in den Kellern der Stadt, nachdem jegliche Organisation zusammengebrochen war.
Dr. Ottmar Kohler1, der berühmte „Arzt von Stalingrad“, legte Wert auf die Aussage: „Die Leistungen einer Division sollten nicht nur an ihren Erfolgen im Kampf oder an den Opfern, die sie dabei erlitt, gemessen werden, sondern auch daran, was die Division für ihre Verwundeten tat – für die Heilung erlittener Wunden! Ich mache dabei vorweg auf die wenig bekannte Tatsache aufmerksam, daß nach den Pionieren die Sanitätssoldaten im letzten Kriege prozentual die größten Opfer an Menschen gebracht haben. Es ist erstaunlich, daß gerade diese beiden Truppengattungen, die selbst nicht oder erst in zweiter Linie mit der Waffe kämpften, sondern vornehmlich der kämpfenden Truppe halfen, am meisten unter den Waffen gelitten und die meisten Opfer gebracht haben. Deshalb gehört zur Geschichte einer Division auch ein Bericht über die Sanitätseinheiten“23.
Dem Leser wird vielleicht auffallen, dass aufgrund von Stilmerkmalen der Texte manche Berichte aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt sind. Sie stammen von verschiedenen Autoren, wurden zum Zweck der besseren Lesbarkeit stilistisch und grammatikalisch überarbeitet und aus verschiedenen Aufsätzen, Büchern und Interviews in zeitlich schlüssiger Weise so aneinandergefügt, dass sie sich gegenseitig ergänzen, ohne dass am Inhalt oder der Absicht des betreffenden Autors eine Änderung vorgenommen wurde.
Dieses Buch versucht zum ersten Mal, aus hauptsächlich privaten Quellen eine umfassende Darstellung der Geschichte der Sanitätseinheiten beim Kampf um Stalingrad vorzulegen und den „stillen Helden“ sowie dem heldenhaften Kampf der Sanitätsangehörigen um das Leben der ihnen anvertrauten Soldaten unter unmöglichen Bedingungen – auch mit zahlreichen Biografien in den Fußnoten – ein bleibendes Denkmal zu setzen.
1Dr. Ottmar Kohler (geb. 19. Juni 1908 in Gummersbach, verst. 28. Juli 1979 in Idar-Oberstein) studierte ab 1927 Medizin in Rostock und Wien und legte 1933 in Köln das Staatsexamen ab. Bis 1938 arbeitete er danach als chirurg. Assistenzarzt im Klinikum Köln-Merheim und schloss seine Weiterbildung als Facharzt für Chirurgie ab. 1939 eingezogen, arbeitete er als Oberarzt und Chirurg bei der 1. San.Kp. der 60. I.D. bis zur Gefangennahme am 2. Februar 1943 im Nordkessel. Als Lagerarzt war er in verschiedenen Kriegsgefangenenlagern eingesetzt, wobei er 1949 zu zehnjähriger Zwangsarbeit verurteilt wurde, später in den Lagern bei Stalingrad eingesetzt war und als „Arzt von Stalingrad“ weltberühmt wurde. Erst am 1. Januar 1954 heimgekehrt, war er bis 1957 als Oberarzt in seiner früheren Kölner Klinik tätig, danach als Chefarzt und 16 Jahre lang als ärztl. Direktor des Krankenhauses Idar-Oberstein. Zahlreiche höchste Ehrungen, u.a. die Paracelsus-Medaille der Deutschen Ärzteschaft.
2Der Bericht wurde der unveröffentlichten Divisionsgeschichte der 60. I.D. entnommen; die Überschrift (Kapitel 6, S. 63–70) lautet: „Der vorgeschobene Hauptverbandplatz – eine Sanitätsformation, bei der 60. I.D. (mot.) erstmals entwickelt und dann im Heer allgemein eingeführt.“
3Traurigerweise verlieren manche Divisionsgeschichten nicht ein Wort über ihre Ärzte oder ihre Sanitätseinheiten!
Einleitung
Neue Quellen zum Schicksal der Sanitätseinheiten in Stalingrad
Die Geschichtsschreibung zum Schicksal der Sanitätseinheiten in Stalingrad ist bis heute mehr als dürftig.
Von den vielen Angehörigen der Sanitätseinheiten, die Stalingrad überlebten, erschienen jahrzehntelang nur sehr wenige Erlebnisberichte. Wissenschaftliche Geschichtsschreibung über das Sanitätswesen in Stalingrad gab es kaum; eine zusammenfassende Darstellung fehlt überhaupt bisher. Akten von Sanitätseinheiten gibt es fast keine, da das Heeresarchiv in Potsdam 1945 ausbrannte. Die wenigen IVb-Berichte der 6. Armee und ihrer Korps und Divisionen sind spärlich und längst zitiert, im Kessel wurden alle vernichtet. Wolfgang U. Eckart wertete sie unter dem Titel „Von der Agonie einer mißbrauchten Armee“ in einem Sammelband aus4. Hier zeigen sich schon gravierende Mängel an zureichenden Quellen: Es entstand ein fragmentarischer Bericht, der auf Unterlagen wie Pliviers Stalingrad-Roman oder Kluges „Schlachtbeschreibung“ zurückgreifen muss. So behauptet Eckart, die Mehrzahl der Verwundeten-Sammelstellen, HVP sowie kleineren Sanitätsstationen der Divisionen sei weder zeitlich noch örtlich rekonstruierbar; die größeren Sanitätseinrichtungen des Kessels seien bekannt. Es sollen 18 Fachärzte Dienst getan haben; nur sieben Namen werden genannt. Insgesamt hatte Eckart damit eine Chance vertan, die zum damaligen Zeitpunkt noch lebenden (geschätzt etwa 100) Stalingrad-Ärzte zu befragen und die vorliegende Literatur systematischer auszuwerten.
Karl-Heinz Schneider-Janessen und Rolf Valentin erschlossen aber immerhin neue Quellen durch Interviews und umfangreiche Briefwechsel mit 20 Stalingrad-Ärzten.
Warum existieren so wenige Quellen? Neben der mangelnden Bereitschaft, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, der hier nicht weiter nachgegangen werden soll – der Zeitgeist bevorzugt Themen wie die Euthanasie oder die Verfolgung jüdischer Ärzte –, kann man noch anmerken, dass Betroffene nach dem Krieg um ihre Existenz zu kämpfen und weder Zeit noch Neigung hatten, über ihre Erlebnisse zu schreiben; außerdem waren viele traumatisiert. In vorhandenen Feldpostbriefen durften Orte und Einheiten nicht erwähnt werden, was die Identifizierung zusätzlich erschwert.
Es besteht bereits Unklarheit darüber, welche Einheit und wer zum Kreis der Stalingrad-Kämpfer gehört. Bei den Einheiten vor Ort ist das unumstritten; gehören aber dazu auch die Einheiten, die im Dezember 1942 zum Entsatz des Kessels antraten, oder die Soldaten, die beim Aufmarsch zum Angriff auf die Stadt antraten, aber zum Zeitpunkt des Erreichens des Stadtrandes schon versetzt oder verwundet abtransportiert