Das Raunen und Tuscheln der Wüste. Bell Gertrude Lowthian
ein reguläres Studium nicht hatte erwerben können. Als sie im Januar 1905 zu ihrer ersten großen Expedition aufbrach, war sie eine ernst zu nehmende Archäologin und Ethnologin.
Auf dieser Reise, die sie in dem vorliegenden Buch beschreibt, durchquerte sie als erste Europäerin allein die syrische Wüste, begleitet von Maultiertreibern, einem Koch, einem oder mehreren Soldaten sowie einem einheimischen Führer. Fünf Monate lang ritt sie auf dem Pferd zu den byzantinischen und römischen Ruinenstätten des alten Syriens bis Konya in Kleinasien, an vielen Orten waren nur wenige Europäer (und nie eine Europäerin) gewesen. Die Reise durch das unwegsame, nicht kartographierte Gelände war nur möglich, weil Rosen sie überzeugt hatte, im Herrensattel zu reiten. Dabei trug sie weite Hosenröcke mit einer Art Schürze, die herabfiel, sobald sie vom Pferd stieg, und die »Hose« verdeckte.
Damals gehörte der gesamte Nahe Osten zum Osmanischen Reich, doch im Vielvölkerstaat gärte es überall. Darum wollten die Türken beispielsweise verhindern, dass Bell das Gebiet der kriegerischen und aufständischen Drusen durchquerte. Sie aber wollte das unbedingt und ignorierte die Anweisungen der osmanischen Verwaltungsbeamten, nicht einmal, nicht zweimal, sondern ständig.
An Bell fasziniert, wie mühelos sie vom Londoner Salon zu Beduinenzelten wechselte, wie offenbar selbstverständlich sie sich mit Scheichs und Bettlern gleichermaßen unterhalten konnte. Getrieben von einer umfassenden Neugier und einer tiefen Achtung vor der Würde des Menschen, begegnete sie jedem, den sie traf, vorbehaltlos und mit echtem Interesse. Furchtlos folgte sie der Einladung Fremder, sie in deren Haus zu begleiten, es scheint, als habe sie damit nur gute Erfahrungen gemacht. Wer sich pompös aufführte, konnte ihrer Verachtung sicher sein – in seiner Gegenwart aber blieb sie immer höflich, immer zuvorkommend, wahrte immer die Sitten.
Grund dafür war auch, dass sie die mächtigen Männer brauchte: Nach dem Gesetz der Wüste waren Frauen unantastbar, dennoch wurde sie auf ihren Reisen mehrfach überfallen und ausgeraubt. Ohne den Schutz der Scheiche, Stammesfürsten oder türkischen Beamten hätte sie sich nicht durch die gefährlichen Landstriche bewegen, manchmal nicht überleben können. Geschickt erwies sie allen ihre Ehrerbietung, Scheiche verschiedener Stämmen nahmen sie gastfreundlich und höflich auf und bewirteten sie. Diese Stämme waren oft auf den Tod verfeindet, doch ihr gelang es, sich aus diesen Rivalitäten völlig herauszuhalten. Sie trank mit allen starken Kaffee, rauchte mit allen schwarze Zigaretten (Bell war zeit ihres Lebens eine starke Raucherin), und war bald der einzige Außenseiter, der diese Stämme nicht nur auseinanderhalten konnte, sondern jeden Fürsten persönlich kannte und wusste, wer mit wem verfeindet, wer mit wem verbündet war. Und je mehr dieser Männer sie persönlich kannte, umso sicherer konnte sie sich bewegen.
Alle Reisen waren anstrengend und entbehrungsreich. Manchmal ritt sie auf einem Pferd oder Kamel zwölf Stunden durch Schneestürme, Wolkenbrüche, sengende Sonne und eisigen Gegenwind, durch Schlammlöcher, über Geröllwüsten, wacklige Brücken und in die Bergwand gehauene Pfade. Widrigkeiten wie Insekten, ungenießbares Wasser oder eintöniges Essen erwähnt sie nur beiläufig, Fragen der Körperhygiene gar nicht, aber man kann sich vorstellen, wie schwierig das in einer reinen Männergesellschaft gewesen sein muss.
Am Ende eines solchen Tages schrieb sie Briefe an ihre Eltern, 1.600 sind erhalten, des Weiteren detaillierte Journaleinträge, die Grundlage ihrer Bücher und wissenschaftlichen Aufsätze waren. Vor allem aber traf sie abends die örtlichen Würdenträger, sei es, dass sie sie in ihrem eigenen Lager empfing, sei es, dass sie sie in deren Zelten oder Häusern besuchte. Sie beschrieb die Begegnungen und Ereignisse ihrer Reisen geistreich, witzig, mitunter spitzzüngig, registrierte mit großer Aufmerksamkeit politische Stimmungen, Machtstrukturen, Allianzen. Und sie vergaß nichts.
Wie bei der Lektüre aller Abenteuerberichte, wundert man sich auch bei Bell darüber, dass sie darauf brannte, diese Härten und Entbehrungen zu wiederholen. Tatsächlich unternahm sie nach 1905 weitere Nahost-Expeditionen, jede ehrgeiziger und gefahrvoller, mit mehr Begleitern und Lasttieren als die vorherige. Seit der zweiten Expedition hatte sie zwei persönliche Zelte, eines zum Schreiben und Empfang der Gäste, das zweite mit ihrem Bett und einer Segeltuch-Wanne – »mein einziger Luxus«. Sie führte neben leinenen Reitröcken, Baumwollblusen und Pelzmänteln auch Abendkleider mit; zwischen Spitzenunterröcken versteckte sie die Gastgeschenke für wichtige Gastgeber: Ferngläser und Pistolen. Selbst bewirtete sie ihre Gäste an Klapptischen, die mit Damast, silbernen Kerzenständern, Kristallgläsern und einem Wedgwood Service gedeckt waren.
Das alles diente keineswegs nur ihrer Bequemlichkeit. Die Mächtigen der Wüste kannten nur Freund oder Feind, eine Frau wie Bell konnten sie nicht einschätzen. Sie sprach fließend Arabisch und brauchte nie einen Dolmetscher, war mit den Sitten des Landes vertraut. Eine große Karawane wie die ihre beeindruckte die Männer, denn sie signalisierte Bedeutung und Wohlstand. Bell trat auf wie eine Königin der Wüste. So wurde sie auch bald genannt: Khatun. Man ging besser vorsichtig mit ihr um, möglicherweise war sie eine mächtige Verbündete.
Sie stellte sich als Frau niemals dümmer als sie war, und kleidete sich immer elegant. Ihren Status als Engländerin nutzte sie strategisch. Einerseits weigerte sie sich, Zelte oder Häuser durch den Eingang der Frauen zu betreten, andererseits hatte sie Zugang zu den Frauengemächern, wo sie auch Klatsch und Informationen hörte, die die arabischen Männer niemals erzählt und europäische Männer niemals gehört hätten. Sie verschleierte sich grundsätzlich nicht, was mitunter zu Schwierigkeiten führte. 1920 schrieb sie aus Bagdad an ihre Mutter: »Bis vor Kurzem waren wir völlig von [den Schiiten] abgeschnitten, denn ihre Glaubenssätze verbieten es, eine unverschleierte Frau anzusehen, und meine Glaubenssätze erlauben es nicht, mich zu verschleiern ... Auch der Versuch, über die Frauen Freundschaft zu schließen, misslingt – wenn sie mich sehen dürften, würden sie sich vor mir verschleiern, als sei ich ein Mann. Wie Du siehst, bin ich für das eine Geschlecht zu weiblich und das andere zu männlich.«
Sie bestand darauf, von den Männern als Ebenbürtige behandelt zu werden, die meisten Araber lösten dieses Dilemma, indem sie Bell zum »Mann ehrenhalber« ernannten. Sie selbst erwähnt selten, dass sie sich als Frau in einer Gesellschaft bewegt, in der Frauen nahezu unsichtbar waren.
Als Frau fiel es ihr auch leichter, als arglose Archäologin aufzutreten, der Politik völlig egal war. Doch schon der Bericht ihrer ersten Expedition zeugt nicht nur von einem umfassenden und fundierten Wissen der Archäologie, Geographie und Geschichte des Nahen Ostens, sondern auch seiner politischen Spannungen und Allianzen. Der plaudernde Ton lässt ihre Texte weniger fundiert erscheinen, als sie es tatsächlich sind, denn ihr Beitrag zur Archäologie des Nahen Ostens ist beträchtlich. Dazu gehört auch, dass sie mit zwei mitgeführten Plattenkameras 7.000 Fotographien machte, die heute als Quelle bedeutsam sind, weil sie den damaligen Erhaltungszustand antiker Stätten dokumentieren.
1909 bereiste sie Mesopotamien (den späteren Irak), 1911 erneut Syrien. Die forderndste Expedition führte 1913/14 auf Kamelen in das sagenumwobene, gefürchtete Ha’il (im heutigen Saudi-Arabien). Zwanzig Jahre lang war kein Europäer mehr dort gewesen, nicht alle früheren Reisenden waren lebend zurückgekehrt. Die 2.500 Kilometer-Strecke durch die Wüste war so gefährlich, dass weder die Osmanen noch die Engländer bereit waren, sie zu schützen. Sie beschloss, auf eigene Gefahr zu reisen, entging dem Tod mehrmals nur knapp und kam auch an die Grenzen ihres Frauseins: »Es ist mühsam, Frau zu sein, wenn man in Arabien ist.« Diese tollkühne Expedition dauerte sechs Monate und war unter Archäologen und Ethnologen bald legendär.
Als sie im Mai 1914 körperlich völlig erschöpft nach England zurückkehrte, brachte sie kostbare Informationen über die Machtverhältnisse in Arabien mit. Dieses Wissen sowie ihre genaue Kenntnis der Clanstrukturen, die sie in den zehn Jahren ihres Reisens zusammengetragen hatte, sollten in den folgenden Jahren den gesamten Nahen Osten prägen.
Auf dieser Reise hatte sie neben dem normalen Journal ein Tagebuch für Richard Doughty-Wylie geführt. Sie war dem britischen Konsul und seiner Frau 1907 in Konya begegnet, doch erst 1912, bei einer erneuten Begegnung, verliebten sie sich ineinander. Sie wechselten leidenschaftliche Briefe, aber mit Rücksicht auf seine Karriere konnte oder wollte er sich nicht scheiden lassen.
Nach vier gemeinsam verbrachten Tagen Ende 1914 schrieb sie ihm: »Ich kann nicht schlafen,