Das Raunen und Tuscheln der Wüste. Bell Gertrude Lowthian

Das Raunen und Tuscheln der Wüste - Bell Gertrude Lowthian


Скачать книгу

      I

      VON JERUSALEM NACH SALT

      Wer in einem komplizierten sozialen Gefüge aufgewachsen ist, erlebt selten einen Moment solch überschwänglicher Freude wie am Beginn einer kühnen Reise. Die Pforte des ummauerten Gartens springt auf, die Kette am Eingang zum geschützten Raum wird heruntergelassen, unsicher blickt man nach rechts und links, wagt den Schritt über die Schwelle und da ist sie: die unermessliche Welt. Eine Welt des Abenteuers und der Wagnisse, verdunkelt von tobenden Stürmen, gleißend in grellem Sonnenlicht, in jeder Senke eines jeden Berges lauern offene Fragen und nicht zu stillende Zweifel. In diese Welt musst du allein eintreten, ohne die Freunde, die in Rosengärten wandeln, du musst den Purpur und das feine Leinen ablegen, die den Arm beim Kampf behindern, du bist ohne Dach, ohne Schutz, ohne Besitztümer. Statt der Stimme des klugen Beraters spricht die Stimme des Windes; das Peitschen des Regens und das Beißen des Frostes werden dir ein schärferer Ansporn sein als Lob und Tadel, die Erfordernisse des Augenblicks sprechen mit einer Autorität, die allen wohlfeilen Weisheiten fehlt, die der Mensch nach Gutdünken annimmt oder verwirft. So also verlässt du die Abgeschiedenheit und kaum hast du den Pfad betreten, der das Rund der Erde umläuft, spürst du, wie der Held im Märchen, die Eisenringe zerspringen, die um dein Herz geschmiedet waren.

      Der 5. Februar begann stürmisch. Der Westwind fegte vom Mittelmeer herein, raste über die Ebene, wo die Kanaaniter die widerspenstigen Bergbewohner Judäas bekriegt hatten, übersprang die Hürde des Gebirges, das die Könige von Assyrien und von Ägypten nicht überwinden konnten. Jerusalem rief er die Kunde vom kommenden Regen zu, raste an den unfruchtbaren Osthängen hinab, übersprang leichtfüßig das tiefe Bett des Jordans, und verschwand über den Hügeln von Moab in die Wüste. Die Meute der Stürme jagte ihm nach, ein kläffendes Rudel, übermütig ostwärts drängend.

      Niemand, in dem das Leben pulsierte, konnte an einem solchen Tag im Hause bleiben, ich aber hatte gar keine Wahl. In der grauen Winterdämmerung waren die Maultiere losgezogen, auf ihrem Rücken trugen sie meine gesamte weltliche Habe – zwei Zelte, eine Feldküche und Vorräte für einen Monat, fotographische Utensilien, einige Bücher und vor allem einen Satz guter Landkarten, das alles war von so geringem Luxus, dass selbst der genügsamste Reisende kaum weniger haben dürfte. Die Maultiere und die drei Maultiertreiber hatte ich aus Beirut mitgebracht, sie waren mir lieb genug, um sie auf die weitere Reise mitzunehmen. Die Männer stammten aus dem Libanon. Zwei, Vater und Sohn, beide Christen, kamen aus einem Dorf oberhalb von Beirut. Der Vater war ein alter, zahnloser Mann, er saß rittlings über den Maultierkisten, murmelte unablässig vor sich hin, Segnungen und fromme Sprüche, dazu Beteuerungen der Ergebenheit gegen seine gnädigste Frau Auftraggeber, womit seine Anstrengungen, zum Wohle aller beizutragen, erschöpft waren. Der Greis hieß Ibrahim, sein Sohn Habib war ein junger Mann, zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt, dunkel, aufrecht und breitschultrig, mit einem Profil, um das ihn jeder Grieche beneidet hätte, und einem furchtlosen Blick unter schwarzen Brauen. Der Dritte war Druse, ein großer, schlaksiger Mann, unverbesserlich träge, auf seine bescheidene Weise ein Spitzbube, der es allerdings verstand, meinen gerechten Zorn über gestohlenen Zucker und fehlende Piaster mit einem flehenden Blick zu entwaffnen, die Augen weit geöffnet und glänzend wie Hundeaugen. Er war gierig und recht stumpfsinnig, Fehler, die bei einer Ernährung aus trockenem Brot, Reis und ranziger Butter vermutlich kaum vermeidbar sind; als ich ihn zwischen seine Erzfeinde steckte, verrichtete er lustlos seine Arbeit, trottete hinter seinem Maultier und seinem Esel her, und wirkte dabei genau so unbeteiligt und abwesend wie schon in den Straßen von Beirut. Sein Name war Muhammed. Der letzte Mann der Karawane war Mikhail, der Koch, ein Christ aus Jerusalem, dem seine Religion nicht sehr schwer auf der Seele lag. Er war mit Mr. Mark Sykes gereist, der ihm folgende Beurteilung gegeben hatte: »Er versteht wenig vom Kochen, es sei denn, er hat dazugelernt, seit er zu mir kam, aber es scheint ihn niemals einen Deut zu interessieren, ob er lebt oder getötet wird.« Als ich Mikhail das übersetzte, überfiel ihn ein kaum unterdrückter Lachanfall, ich engagierte ihn auf der Stelle. Das war ein recht unzulänglicher Grund, aber nicht schlechter als die meisten anderen. Im Rahmen seiner Fähigkeiten diente er mir gut, er war ein kleiner Mann, empfindlich und stolz, immer bereit, einer möglichen Beleidigung zuvor zu kommen, mit einer großen Vorstellungsgabe, die sich in den drei Monaten unserer Bekanntschaft nie erschöpfte. Seine Anstellung bei Mr. Sykes endete, nachdem sie auf dem Vansee zusammen in Seenot geraten waren. In den Jahren seither hatte Mikhail manches andere gelernt, er machte sich aber leider nie die Mühe, mir die Geschichte dieses Abenteuers zu erzählen, als ich einmal darauf anspielte, nickte er allerdings und sagte: »Wir waren dem Tod so nah wie der Bettler der Armut. Aber wie Eure Exzellenz wissen, kann man nur einmal sterben«, während er mich andererseits ständig mit Berichten über Touristen bombardierte, die erklärt hatten, dass sie ohne seine Kochkünste Syrien weder bereisen konnten noch wollten. Er hatte eine unheilvolle Schwäche für Arak, und nachdem ich von Schmeicheleien bis zur Jagdpeitsche alles versucht hatte, um das zu unterbinden, trennte ich mich an der kilikischen Küste abrupt von ihm, durchaus mit einem Bedauern, das nicht seinen zähen Ragouts und kalten Pfannkuchen galt.

      Ich wollte die verlassene Straße nach Jericho unbedingt allein entlang reiten, wie ich es früher getan hatte, wenn ich in die Wüste aufbrach. Aber Mikhail meinte, das sei mit meiner Würde unvereinbar, und ich wusste, dass selbst sein ständiges Plappern der Straße ihre Einsamkeit nicht würde nehmen können. Um neun Uhr saßen wir im Sattel, umrundeten ernst Jerusalems Mauern, ritten in das Tal von Getsemani hinunter, am Garten Getsemani vorbei und zum Ölberg hinauf. Hier rastete ich, um auf die befestigte Stadt zu schauen, keine Vertrautheit kann den Glanz dieses Anblicks schmälern. Sie lag unter einem tiefen Himmel, grau in grauer und steiniger Landschaft, doch von der Hoffnung und dem unstillbaren Sehnen vieler Pilgergenerationen erleuchtet. Das menschliche Streben, das blinde Tasten des gefesselten Geistes nach einem Ort, wo alle Bedürfnisse gestillt werden, wo die Seele Frieden findet – das ist es, was diese Stadt wie ein Heiligenschein umgibt; und dieser Heiligenschein ist teils brillant, teils erbärmlich, von Tränen glänzend und von vielen Enttäuschungen matt. Der Westwind drehte mein Pferd, schicke es im Galopp über den Kamm des Berges, zur Straße hinunter, die sich durch Judäas Wildnis schlängelt.

      Am Fuße des ersten Abstiegs liegt eine Quelle, die Araber nennen sie Ain esh Shems, Sonnenbrunnen, die Christen haben sie Apostelbrunnen getauft. Wer im Winter dort vorbeikommt, wird fast immer russische Bauern sehen, die auf ihrem beschwerlichen Weg den Jordan hinauf hier rasten. Jahr für Jahr strömen sie zu Zehntausenden ins Heilige Land, überwiegend alte Männer und Frauen, die ein Leben lang geknausert und gespart haben, bis sie etwa dreißig englische Pfund zusammen hatten, die sie nach Jerusalem führen würden. Von den entlegensten Ecken des russischen Reiches gehen sie zu Fuß an das Schwarze Meer und reisen von dort als Deckpassagiere auf schmutzigen russischen Kähnen. Ich bin mit 300 von ihnen von Smyrna nach Jaffa gereist und war der einzige Passagier mit Kabine. Es war mitten im Winter, stürmisch und kalt für alle, die an Deck schliefen, auch wenn sie Schaffellmäntel und gefütterte Stulpenstiefel trugen. Aus Gründen der Sparsamkeit hatten meine Mitreisenden ihren Proviant mitgebracht, einen Laib Brot, ein paar Oliven, eine rohe Zwiebel, daraus bestand ihr tägliches Mahl. Morgens und abends versammelten sie sich zum Gebet vor einer Ikone, die an der Kombüse hing, der Klang ihrer Litanei stieg, zusammen mit dem Stampfen der Schraube und dem Klatschen der Gischt, gen Himmel. Die Pilger erreichen Jerusalem vor Weihnachten und bleiben bis nach Ostern, um ihre Kerzen am heiligen Feuer entzünden zu können, das am Morgen der Auferstehung aus dem Heiligen Grab hervorbricht. Sie wandern zu Fuß an alle heiligen Stätten und übernachten in großen Herbergen, die die russische Regierung für sie erbaut hat. Viele sterben an Unterkühlung, Erschöpfung oder wegen des ungewohnten Klimas; aber in Palästina zu sterben, ist die größte Gnade, die der Himmlische Vater ihnen gewähren kann, denn dann ruhen ihre Gebeine friedlich im Heiligen Land und ihre Seele fliegt direkt ins Paradies. Man begegnet diesen sehr einfachen Reisenden auf jeder Landstraße, geduldig trotten sie unter brennender Sonne und eisigen Winterregen, bekleidet mit Pelzen aus ihrer Heimat, in der Hand einen Stab aus Rohr vom Jordanufer. Sie fügen dieser Landschaft, die so voll schwermütiger Poesie ist, einen grellen Klang von Pathos hinzu. Ich habe in Jerusalem eine Geschichte gehört, die das Wesen dieser Pilger besser beschreiben kann als seitenlange Schilderungen. Ein Einbrecher war auf frischer Tat ertappt und nach Sibirien geschickt worden, wo er viele Jahre Sträfling


Скачать книгу