Das Raunen und Tuscheln der Wüste. Bell Gertrude Lowthian
Sharran
Für A. C. L.
DER DAS HERZ DES OSTENS KENNT
VORWORT
Wer es wagt, der bereits umfangreichen Reiseliteratur einen weiteren Band hinzuzufügen, muss, so er nicht Wissenschaftler oder Politiker ist, dafür eine Entschuldigung haben. Meine Entschuldigung habe ich formuliert, sie ist ausführlich und, wie ich hoffe, auch überzeugend. Ich wollte weniger von einer Reise berichten, als von den Menschen, denen ich begegnet bin und die mich auf meinem Weg begleitet haben, ich wollte zeigen, in welcher Welt sie leben und wie sie sie sehen. Ich lasse sie, wenn immer möglich, besser selbst sprechen, deshalb habe ich ihre Geschichten mit dem Verlauf meiner Wege verknüpft. Ich gebe wieder, was die Schafhirten und Soldaten mir erzählten, um die gemeinsamen Wegstunden zu verkürzen, Gespräche, die am Lagerfeuer, in den schwarzen Zelten der Araber und den Besuchszimmern der Drusen geführt wurden, und nicht zuletzt auch die etwas vorsichtigeren Äußerungen, die türkische und syrische Beamte machten. Ihre Staatskunst besteht darin, durchaus scharfsinnig darüber zu spekulieren, was aus einem Zusammenprall unbekannter Kräfte entstehen könnte, deren Stärke und Absichten sie nur vage erahnen. Sie schöpfen ihr Wissen aus anderen Informationsquellen und messen mit anderen Maßstäben als wir es tun, sie nähern sich einem Problem, das sich ihnen stellt, mit anderen Erfahrungen als wir.
Der Orientale ist wie ein sehr altes Kind. Viele Wissenszweige, die uns grundlegend und unverzichtbar scheinen, sind ihm unbekannt; von wenigen Ausnahmen abgesehen, scheint es ihm unnötig, dieses Wissen zu erwerben, und der praktische Nutzen einer Handlung ist selten Teil seiner Erwägungen. In unserem Sinn des Wortes ist er nicht praktischer als ein Kind. Andererseits handelt er immer und bei allem nach Verhaltens- und Moralgesetzen, die an den Anfang der Zivilisation zurückgehen. Diese Traditionen sind unverändert, weil auch die Lebensweise, zu der sie gehören und aus der sie entstanden, noch keine wichtigen Veränderungen erlebt hat. Davon abgesehen, ist er wie wir: die menschliche Natur erfährt östlich des Suez keine grundlegende Wandlung, Freundschaft und Seelenverwandtschaft mit Menschen aus diesen Gegenden sind keineswegs unmöglich; sie sind in mancherlei Hinsicht sogar einfacher als in Europa.
Man stellt nämlich fest, dass im Orient die Lebensformen nicht so stark durch künstliche Fesseln eingeengt sind; es herrscht eine größere Toleranz, weil es eine größere Vielfalt gibt. Die Gesellschaft ist durch Kasten, Sekten und Stämme in zahllose Gruppen aufgeteilt, und jede folgt ihrem eigenen Gesetz. Die Regeln mögen uns sonderbar erscheinen, für einen Orientalen sind sie die schlüssige und befriedigende Erklärung für jede Eigentümlichkeit. Ein Mann kann sich, so er will, in der Öffentlichkeit bis zu den Augen verhüllen oder bis auf einen Lendenschurz entkleiden: Niemand wird das kommentieren. Warum auch? Folgt er doch, wie alle, nur seinem Gesetz. Daher kann ein Europäer die entlegensten Gegenden kreuz und quer bereisen, ohne dass man ihm besondere Neugier oder gar Kritik entgegen bringt. Man wird dem Neuen mit Interesse lauschen, man wird seinen Ansichten aufmerksam folgen, aber keiner wird ihn für merkwürdig oder verrückt halten oder auch nur seine Ansichten abtun, weil er andere Gewohnheiten und Denkweisen pflegt als jene, mit denen er gerade zusammen ist. Adat-hu: So ist es bei ihm Brauch.
Ein Europäer ist daher gut beraten, sich bei den Orientalen nicht einschmeicheln zu wollen, indem er ihre Sitten nachäfft, es sei denn, er beherrscht sie so gut, dass er als einer der Ihren gelten kann. Er soll die Gesetze der anderen achten, sich selbst aber strikt an die seinen halten, das sichert ihm die größte Achtung. Für eine Frau ist das die erste und die wichtigste Regel, denn eine Frau kann sich niemals wirklich verbergen. Wenn man weiß, dass sie einem bedeutenden und geachteten Haus entstammt, das zudem einen untadeligen Ruf genießt, ist ihr höchstes Ansehen sicher.
Keines der Länder, die ich bereist habe, ist für Reisende jungfräuliches Terrain, einige Gegenden wurden allerdings noch nicht oft besucht, sie sind nur in kostspieligen und schwer erhältlichen Werken beschrieben. Solche Orte habe ich kurz dargestellt. In den nordsyrischen Städten habe ich auch jene antiken Ruinen beschrieben, die auch dem flüchtigen Betrachter ins Auge fallen. In Syrien und am Rand der Wüste steht viel Forschungsarbeit aus, dort gibt es noch viele schwierige Probleme zu lösen. De Vogüé, Wetzstein, Brünnow, Sachau, Dussaud, Puchstein und Kollegen, die Teilnehmer der Princeton Expedition sowie andere haben einen guten Anfang gemacht. Wer erfahren möchte, wie unermesslich reich dieses Land an antiken Baudenkmälern und Schriftzeugnissen einer weit zurückliegenden Epoche ist, sei auf deren Werke verwiesen.
Meine Reise endete nicht, wie dieser Bericht, in Alexandretta, aber in Kleinasien widmete ich mich im Wesentlichen der Archäologie. Die Ergebnisse meiner dortigen Arbeit konnten, dank des freundlichen Entgegenkommens ihres Herausgebers Monsieur Salomon Reinach, als Essayreihe in der »Revue Archéologique« erscheinen, wohin sie viel besser passen als in dieses Buch.
Ich kenne weder die Menschen noch die Sprache Kleinasiens gut genug, um diesem Kontinent wirklich nahe zu kommen, möchte aber, trotz der recht flüchtigen Bekanntschaft, dem türkischen Bauern meine Hochachtung ausdrücken. Er ist mit vielen Tugenden gesegnet und nennt viele gute Eigenschaften sein Eigen, seine Gastfreundschaft übertrifft alle diese Eigenschaften noch.
Ich habe mich auch bei weniger bedeutenden Personen sehr bemüht, sie mit ihrem tatsächlichen politischen Rang in Verbindung zu bringen. Im direkten Umgang erscheinen sie oft gar nicht unwichtig, und ich war immer dankbar, wenn mir jemand einen Hinweis darauf gab, welcher Art ihre Beziehungen untereinander waren. Es liegt nicht in meinem Interesse, die Herrschaft der Türken zu rechtfertigen oder zu verdammen. Ich habe lange genug in Syrien gelebt, um zu wissen, dass diese Regierung alles andere als eine ideale Verwaltung ist; ich habe aber auch gesehen, wie viele Unruhe stiftende Elemente sie in Schach hält, und kann ermessen, wie schwierig die Aufgabe ihrer Beamten ist. Ich glaube nicht, dass es eine Regierung gibt, die alle zufrieden stellen könnte; dieses erstrebenswerte Ziel wird selbst in weniger zersplitterten Ländern kaum je erreicht.
Als Engländerin bin ich überzeugt, dass unsere Regierung Syrien unter seine Obhut hätte nehmen sollen, unsere Aussichten auf Erfolg wären größer gewesen als die eines nur halbwegs vernünftigen Sultans. Wir haben schon lange akzeptiert, dass uns diese Aufgabe nicht übertragen werden wird, doch bedauerlicherweise haben wir mehr als das getan: Wir haben uns damit abgefunden, dass im ganzen türkischen Herrschaftsgebiet unser ehemals großer Ruf leidet und schwindet. Wir wollten nicht die Verantwortung für ein offizielles Eingreifen übernehmen, aber wir haben die unverantwortlichen, heftig vorgetragenen Proteste zugelassen, die nur auf Gefühl basieren und die ich mich nicht scheue, ignorant zu nennen. Daher macht unser Umgang mit den Türken den Eindruck von Unentschlossenheit, worin diese verständlicherweise Hinterlist vermuten, der sie mit Feindseligkeit begegnen. Ich bin der Ansicht, dass solche Gefühle, gepaart mit einer tief sitzenden Furcht vor einem großen Asiatischen Reich, das auch Ägypten und die Meere beherrscht, die Hohe Pforte veranlasst haben, sich bei der ersten Gelegenheit offen gegen britische Forderungen zu stellen. Ob das an einer schlichten Fehleinschätzung lag, welchen gravierenden Stimmungswechsel das nach sich ziehen würde, oder ob das in der Hoffnung auf Unterstützung aus dem Ausland geschah, ist unerheblich. Das Ergebnis jedenfalls ist beklagenswert, und wenn ich die Lage richtig einschätze, liegt das alles nur daran, dass England in Konstantinopel über keinen Einfluss mehr verfügt. Die bedeutende Stellung, die wir innehatten, nimmt nun ein anderer ein, dabei sollten wir doch in der Lage sind, die uneindeutige Politik des Yildiz Kiosk zu lenken. Die größte mohammedanische Macht kann es sich nicht leisten, dass ihre Beziehungen zum Khalif des Islams so inkonsequent und so wenig entschlossen geregelt werden, und wenn uns die Unbeugsamkeit des Sultans im Tabah-Konflikt vor Augen führen würde, wie weit uns die Zügel bereits entglitten sind, hätte der Konflikt seinen Sinn erfüllt. Unsere Position am Mittelmeer, das Wohlwollen, mit dem man uns, wie ich glaube, auf türkischem Herrschaftsgebiet begegnet und die Erinnerung an eine sehr lange Freundschaft sollten es uns aber möglich machen, den einmal verlorenen Platz wiederzuerlangen.
Fragen wie diese sprengen aber den Rahmen des vorliegenden Buches. Und so schließt meine apologia mit den Worten, mit denen jeder orientalische Schriftsteller sie begonnen hätte: »Im Namen Gottes, des Barmherzigen und Gütigen!«
Mount Grace Priory