Selbstbestimmung im Sterben - Fürsorge zum Leben. Urban Wiesing
dürfe Anträge, Mittel zum freiverantwortlichen Suizid zur Verfügung zu stellen, unter engen Voraussetzungen nicht ablehnen. Das Bundesministerium für Gesundheit wies daraufhin das BfArM an, trotz des höchstrichterlichen Urteils alle weiteren Anträge abzulehnen, was ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts zur Gesamtthematik umso dringlicher werden ließ. Nach langer Bedenkzeit und einer zweitägigen mündlichen Verhandlung im April 2019 wartete das Bundesverfassungsgericht am 26. Februar 2020 mit einem überaus deutlichen Urteil auf: Es erklärte den § 217 StGB für verfassungswidrig und nichtig, da zur Menschenwürde auch das Recht gehöre, freiverantwortlich seinem Leben selbst ein Ende zu setzen und dabei auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen.
Gleichzeitig mit der für viele Beobachter überraschend starken Betonung des Autonomie-Prinzips hat das Gericht auch die Gefahren einer unregulierten Suizidhilfe angesprochen und dem Gesetzgeber Hinweise zu einer verfassungsgemäßen Regelung gegeben. Es obliegt nun dem Deutschen Bundestag, ein Gesetz zu erlassen, das den verfassungsrechtlich wie ethisch hochrangigen Grundsätzen der Selbstbestimmung und der Fürsorge für das Leben auf gesellschaftlich akzeptable und nachhaltige Weise Geltung verschafft. Mit Blick auf diese Aufgabe des Parlaments haben wir unseren Gesetzesvorschlag von 2014 unter Berücksichtigung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse überarbeitet und den Vorgaben des Verfassungsgerichts angepasst.
Wie schon 2014 hoffen wir, mit diesem konkreten Vorschlag einen Beitrag zu einer nüchternen und sachgerechten Diskussion dieses kontroversen Themas leisten zu können. Für Kommentare, konstruktive Kritik und Anregungen zur Verbesserung sind wir auch diesmal jederzeit dankbar.
Lausanne/Mannheim/Tübingen, im Juni 2020
Die Verfasser
1
Einleitung
1.1
Problem
1.1.1 Rahmenbedingungen für medizinische Entscheidungen am Lebensende
In Deutschland stirbt die Mehrzahl der Bürger1 im Rahmen von fortschreitenden, unheilbaren Erkrankungen, bei denen das Lebensende Wochen oder gar Monate im Vorhinein absehbar und gestaltbar ist. Das gilt selbst für die gegenwärtige Situation, in welcher die Pandemie Covid-19 auf dramatische Art und Weise in Erinnerung ruft, dass der Tod auch schnell und unvorhergesehen eintreten kann. Gleichwohl geht die langfristige Tendenz in unserer Gesellschaft dahin, dass die weit überwiegende Mehrheit der Menschen an chronischen Erkrankungen verstirbt, die allermeisten davon hochbetagt.
Jeder Bürger, der die Fähigkeit zur rechtsgültigen Einwilligung in medizinische Maßnahmen besitzt, kann lebenserhaltende Behandlungen (z. B. Reanimation, Beatmung, Chemotherapie, Dialyse) ablehnen, um das Sterben zuzulassen. Die Umsetzung des Willens kann, ethisch und rechtlich gleichwertig, durch Unterlassen einer potenziell lebenserhaltenden Behandlung oder durch Beendigung einer bereits begonnenen lebenserhaltenden Behandlung erfolgen.2 Gleichermaßen muss eine Behandlung unterbleiben oder beendet werden, wenn dies aus einer Patientenverfügung, einer im Voraus mündlich geäußerten Behandlungsablehnung oder dem mutmaßlichen Willen des Patienten eindeutig ersichtlich wird.3 Der Gesetzgeber hat mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts von 2009 hierfür klare Regelungen erlassen. Zudem hat der Bundesgerichtshof (BGH) die strafrechtlichen Bedingungen für einen erlaubten Behandlungsabbruch festgestellt.4
Die palliativmedizinische und hospizliche Betreuung und Begleitung am Lebensende haben sich in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren deutlich verbessert. Auch wenn Deutschland dadurch im internationalen Vergleich gut dasteht,5 ist die Versorgung in manchen Bereichen des Gesundheitswesens und bei manchen Krankheitsbildern noch unzureichend, insbesondere bei nicht-onkologischen Erkrankungen und speziell bei Demenzerkrankungen. Die schmerz- und symptomlindernde Therapie ist noch nicht überall auf höchstem Standard. Dies liegt unter anderem daran, dass bei manchen Ärzten immer noch die Befürchtung besteht, durch Verabreichung von hochwirksamen Schmerzmitteln gegen betäubungsmittelrechtliche Vorschriften oder gar gegen das Tötungsverbot zu verstoßen. Dabei hat der Bundesgerichtshof schon im letzten Jahrhundert klargestellt, dass eine ärztlich gebotene schmerzlindernde Maßnahme auch dann durchgeführt werden darf, wenn als mögliche (nicht beabsichtigte) Nebenfolge der Tod früher eintreten könnte (sogenannte »indirekte Sterbehilfe«).6
Im Gegensatz hierzu ist die Tötung auf Verlangen in Deutschland nach § 216 Strafgesetzbuch (StGB) strafbar. Aktuell lassen weltweit lediglich die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Kanada und Kolumbien sowie der australische Bundesstaat Victoria die Tötung auf Verlangen unter gesetzlich definierten Bedingungen straffrei (
Definitionen
Der hier unterbreitete Vorschlag orientiert sich an der Terminologie, die unter anderem der Nationale Ethikrat, Vorgänger des Deutschen Ethikrats, im Jahre 2006 vorgeschlagen hat:7
1.1.2 Praxis und Regelung der Suizidhilfe in Deutschland
Die Selbsttötung und ihr Versuch sind in der Bundesrepublik Deutschland nicht strafbar. Konsequenterweise traf dies bis zum Jahre 2015 ebenfalls auf die Hilfe zur Selbsttötung zu, sofern die Selbsttötung oder deren Versuch freiverantwortlich erfolgte. Nachdem in den Jahren vor 2015 vermehrt Suizidhilfe durch private Vereine und Einzelpersonen in Deutschland durchgeführt und auch medial