Selbstbestimmung im Sterben - Fürsorge zum Leben. Urban Wiesing
vorliegenden Buches, die im Jahr 2014 erschien, wurde durch diese Diskussion veranlasst und brachte einen konkreten Gesetzesvorschlag in die Debatte ein. Im Deutschen Bundestag entstanden schließlich vier verschiedene Gesetzesentwürfe interfraktioneller Gruppen. Am 5. November 2015 entschieden sich die Parlamentarier mehrheitlich für einen Entwurf, der als »Gesetz über die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung« am 10. Dezember 2015 schließlich Gesetzeskraft erlangte.
Dieses Gesetz hat über den neuen § 217 StGB geregelt, dass eine Förderung der freiverantwortlichen Selbsttötung dann strafbar ist, wenn sie geschäftsmäßig geschieht. Dabei bezieht sich der juristische Fachbegriff der »Geschäftsmäßigkeit« auf eine Tätigkeit, welche auf Wiederholung bzw. Dauer angelegt ist. Ein Gewinnerzielungsinteresse ist hierbei nicht notwendig. Ausgenommen von dieser Strafbarkeit wurden ausdrücklich Angehörige und Nahestehende.
Das Gesetz hat von Beginn an viel Kritik und Ablehnung erfahren, sowohl in der Politik, in juristischen und medizinischen Fachkreisen, als auch in der Öffentlichkeit. Wir selbst haben im Jahr 2017 ausführliche Kommentare zu diesem Gesetz aus ethischer, juristischer und medizinischer Sicht veröffentlicht.10 Dieser Paragraf hat faktisch die Möglichkeit zur Hilfe bei freiverantwortlichen Suiziden in Deutschland abgeschafft. Da die Anwendung des Begriffs »geschäftsmäßig« unklar und kontrovers blieb, haben selbst Ärzte, welche der Suizidhilfe offen gegenüberstanden, eine solche Handlung aus Angst vor strafrechtlichen Folgen gescheut. Hinzu kommt, dass das ärztliche Standesrecht in Bezug auf die ärztliche Suizidhilfe nicht bundeseinheitlich ist: Während die (Muster-)Berufsordnung der Bundesärztekammer (MBO-Ä) einen Verbotspassus empfiehlt (»Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten«11), haben nur zehn der 17 Landesärztekammern diesen Passus in ihre Berufsordnungen übernommen. Sechs Landesärztekammern (Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein) verzichten bewusst auf diesen Satz und erlauben damit die ärztliche Suizidhilfe. Die Berufsordnung in Westfalen-Lippe wählt einen Zwischenweg: Ärzte »sollen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.«12
Da Angehörige in der Regel weder das erforderliche Wissen noch den Zugang zu den nötigen Medikamenten haben, kam es im weiteren Verlauf zu zwei parallelen Entwicklungen: Einerseits versuchte der Verein Sterbehilfe Deutschland e. V. um Roger Kusch, aus der Schweiz heraus Suizidhilfe für Deutsche anzubieten. Zugleich blieb die Zahl der Deutschen hoch, die mit Hilfe des Vereins Dignitas in der Schweiz aus dem Leben schieden. Laut den von Dignitas veröffentlichten Statistiken kommen knapp 44 % aller Menschen, die durch Dignitas Suizidhilfe erhalten, aus Deutschland.13 Bezogen auf die Zahlen der letzten Jahre nehmen demnach etwa 73 deutsche Bürger jährlich in der Schweiz Suizidhilfe von Dignitas in Anspruch.
Andererseits gab es Betroffene, welche das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) um die Abgabe todbringender Betäubungsmittel baten. Diese Anfragen mehrten sich insbesondere, nachdem das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig am 2. März 2017 auf der Basis grundgesetzlicher Erwägungen entschied, dass der Erwerb eines Betäubungsmittels zur freiverantwortlichen Selbsttötung unter bestimmten Ausnahmesituationen nicht verwehrt werden könne. Diese Situationen seien dann geben, wenn (1) der Betroffene unter einer schweren und unheilbaren Erkrankung leide, die zu unerträglichem und nicht zu lindernden Leiden führe, (2) der Betroffene entscheidungsfähig sei und sich frei und ernsthaft zum Suizid entschieden habe, und (3) eine andere zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunsches nicht zur Verfügung stehe. Auf Weisung der Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe und Jens Spahn wurden die über 100 beim BfArM eingereichten Anfragen trotz der höchstrichterlichen Entscheidung nicht bearbeitet bzw. abschlägig beschieden, weshalb der Unmut der Antragstellenden zunahm.
1.1.3 Urteil des Bundesverfassungsgerichts und gesetzlicher Regelungsbedarf
Das Bundesverfassungsgericht hat auf der Basis zahlreicher Anträge von Ärzten, Juristen und Vereinen den § 217 StGB überprüft und mit Urteil vom 26. Februar 2020 für verfassungswidrig und nichtig erklärt (
Es gibt derzeit bereits politische Bestrebungen, eine neue, verfassungskonforme gesetzliche Regelung für die Suizidhilfe zu finden. Als Autoren eines Gesetzesvorschlags von 2014 stimmen wir diesem Grundanliegen zu und haben unseren Gesetzesvorschlag nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts überarbeitet. Ohne eine sinnvolle gesetzliche Regelung ist die Praxis der Suizidhilfe nicht unproblematisch, wie die Vergangenheit gezeigt hat. Wenn weder strafrechtliche noch einheitliche arztrechtliche Regeln vorhanden sind und es keine Sorgfaltskriterien geschweige denn Dokumentationserfordernisse oder Meldeverfahren gibt, ist die Praxis der Suizidhilfe nicht nur sehr heterogen, unkontrolliert und intransparent, sondern auch aus ethischer und rechtlicher Sicht fragwürdig: