Hexenzirkel 3: Das Lied des auferstandenen Gottes. R.A. Salvatore
als Thaddius sein magisches Werk an der vergleichsweise kleinen Kiste beendet hatte. Erneut hielt er den Diamanten empor, reduzierte jedoch dessen Leuchtkraft – er wusste nicht genau, warum ihm das wichtig war, aber irgendwie kam ihm das respektvoller vor. Er wich ein Stück zurück, als Elysant vorsichtig den Deckel, der sich nun bewegen ließ, von der Truhe schob. Und es handelte sich tatsächlich um eine Truhe, keinen Sarg, denn im Gegensatz zu den vier anderen Behältnissen war dieses nicht für einen Toten bestimmt gewesen.
Elysant war erstaunlich stark für ihre Größe und so gelang es ihr, den Deckel sanft zu Boden gleiten zu lassen. Sie warf Thaddius über ihre Schulter einen ratsuchenden Blick zu, denn er war noch einen Schritt zurückgewichen und rührte sich nun nicht mehr.
»Thaddius?«, fragte sie.
Er antwortete nicht. Er konnte sich nicht dazu überwinden, vorzutreten und einen Blick in die Truhe zu werfen. Er erinnerte sich an die vielen Schritte, die ihn an diesen Ort und zu diesem Moment geführt hatten – falls es sich wirklich um das handelte, was er annahm und nach dem er sich vor Sehnsucht fast verzehrte.
»Dann stimmte es also«, sagte Elysant, der es schwerfiel, Worte hervorzubringen, denn ihre Lippen zitterten, obwohl es nicht kalt war. Die kleine Frau stellte sich zögernd auf die Zehenspitzen und warf einen Blick in die Steintruhe, allerdings nur einen kurzen Moment lang, dann wandte sie sich ab. Thaddius erkannte, dass sie sich genauso fühlte wie er.
»Wenigstens taugen die Heiden doch mal zu etwas«, sagte Bruder Thaddius, um der Situation die Spannung zu nehmen.
»Heiden?«, fragte Elysant skeptisch.
»Du hältst sie doch nicht wirklich für Abellikaner, oder?«, erwiderte Thaddius. »Siehst du sie beten oder Opfer darbringen? Ich halte sie für Samhaist und keine Abellikaner – oder schlimmer noch, für eine Mischung aus beidem, was verdammenswerter wäre als einfach nur ein Samhaist zu sein.«
»Weil Abellikanismus so rein ist?«, fragte Elysant grinsend, während sie ihren Kampfstab kreisen ließ. Damit wollte sie Thaddius nicht gerade subtil daran erinnern, dass sie von Pagonel, einem Jhesta-tu-Mystiker aus dem weit entfernten Behren, zur Kriegerin ausgebildet worden war.
»Das ist nicht dasselbe«, widersprach Bruder Thaddius, schüttelte dann jedoch den Kopf und ließ die Diskussion auf sich beruhen, weil er wusste, dass er sie nicht gewinnen konnte. Seit einem Jahrzehnt fungierte Schwester Elysant als sein mentales Gegenstück. Sie forderte ihn immer wieder heraus und manövrierte ihn gerne (und öfter als ihm lieb war) in logische Ecken hinein, aus denen er nicht entkommen konnte. Die Vorstellung, dass Elysant, die drei Jahre jünger als er war und noch keine dreißig, zu seiner wichtigsten Lehrerin geworden war, amüsierte Thaddius.
Er hoffte, dass sie ihn auch so sah.
»Sie glauben das, was sie glauben müssen, um die Prüfungen, die dieses harte Land ihnen auferlegt, bestehen zu können«, entgegnete Elysant. »Und um das Leben selbst meistern zu können, denn der Tod beobachtet sie ständig mit hungrigen Augen. War unser eigener Glaube vor ein paar Jahren so gefestigt? War es deiner?«
»Wir stehen vor einem großen Schatz und streiten uns über Politik«, erwiderte Thaddius und stieß ein nervöses Lachen aus.
»Wir stehen vor den Geheimnissen der ersten und größten abellikanischen Mönche – zumindest hoffen wir das«, rief ihm Elysant ins Gedächtnis. »Nur dank Politik und Glauben betrachten wir sie überhaupt als Schätze.«
Bruder Thaddius entfernte sich noch weiter von der offenen Truhe und musterte die Frau mit eindringlichem Blick, obwohl er in Gedanken über sich selbst urteilte und natürlich nicht über sie. Er dachte sorgfältiger über ihr Argument nach, vor allem wegen seines eigenen inneren Konflikts, der im Rahmen der Umwälzungen des Bürgerkriegs entstanden war, der Honce-der-Bär vor mehr als einem Jahrzehnt verwüstet hatte. Bruder Thaddius hatte zu den Streitkräften gehört, die das wichtigste Kloster der Welt, die Abtei von St.-Mere-Abelle, verteidigen sollten. Dabei hatten sie unter dem Kommando von Vater Abt Fio Bou-raiy gestanden, einem Abellikaner, der sich den Glaubenssätzen des kurz davor heiliggesprochenen Bruders Avelyn Desbris verschrieben hatte. Avelyn betonte in seinen Lehren Mitgefühl und Toleranz, was so weit ging, dass er sogar die Schönheit der magischen Ringsteine verbreiten wollte.
Ihnen gegenüber standen die Streitkräfte der dämonischen Ausgeburt König Aydrian Boudabras, der mit seiner mächtigen Armee einen Angriff gegen St.-Mere-Abelle gestartet hatte, die letzte Bastion des Widerstands gegen seine drakonische Herrschaft. Zu dieser Armee gehörten auch einige abellikanische Mönche, die von dem grimmigen und mächtigen Meister De’Unnero angeführt worden waren.
De’Unnero.
Bruder Thaddius Roncourt verzog schon das Gesicht, wenn er nur an den Namen dachte. Marcalo De’Unnero hatte an die alten Bräuche geglaubt, an Urteil und Strafe, daran, dass die Kirche allein das Recht hatte, die Ringsteine zu horten, und dass das Leid der Welt den armen Abschaum lehren sollte, dass man nur auf Erlösung hoffen konnte, wenn man sich der abellikanischen Kirche unterwarf und ihr huldigte. Vater Abt Bou-raiys gütige Umarmung war auf den Schlag von De’Unneros Arm getroffen, der sich gleichsam in eine todbringende Tigerpranke verwandelt hatte.
Beide Männer waren bei dieser Schlacht, in der sogar ein Drache aus der Wüste von Behr mitgemischt hatte, umgekommen, ebenso wie viele Tausend andere, aber Bou-raiys Seite hatte sich durchgesetzt. St.-Mere-Abelle war siegreich, König Aydrian war geschlagen und wurde verbannt und der sanftmütige Braumin Herde, ein Freund und Jünger von St. Avelyn stieg zum Vater Abt der abellikanischen Kirche auf.
Bruder Thaddius verstand mittlerweile, dass die Seite, die auf Güte und Gemeinschaft setzte, gewonnen hatte. Aber er wusste auch, ebenso wie seine Begleiterin, die zu seiner besten Freundin geworden war, dass er die innere Reise zu seiner momentanen Philosophie als heimlicher Anhänger von Marcalo De’Unnero angetreten hatte.
»Urteile nicht über die Leute hier, Bruder«, sagte Elysant, als hätte sie seine Gedanken gelesen, was, wie Thaddius erkannte, gerade wohl nicht besonders schwer war. »Deine Empörung lastet schwerer auf dir als auf ihnen. Sie wissen nur, was sie wissen, so wie wir nur wissen, was wir wissen.«
»Und nun sind wir hier«, erwiderte Thaddius leichthin und grinste. Es war ein ehrliches Lächeln, das ihm die unbezahlbaren Relikte entlockten, die nun anscheinend zum Greifen nahe waren. Zögernd kehrte er zu dem offenen Sarg zurück, dem einzigen, der von Vandalismus und Plünderung durch andere ungebetener Besucher verschont geblieben war. Die Kerben auf dieser Truhe – das Behältnis trug keine Inschrift und war ansonsten frei von jeglichen Zeichen oder Einritzungen – ließen erkennen, dass Grabräuber vergeblich versucht hatten, sie aufzubrechen, so wie der alte Dorfbewohner behauptet hatte. Er hatte den beiden Mönchen von Geschichten erzählt, in denen es hieß, einer der Särge hätte selbst den schwersten Hämmern der Diebe widerstanden. Nur diese eine unverzierte Truhe, die ansonsten bescheiden wirkte, passte zu dieser Beschreibung und wies die entsprechenden Kratzer auf.
Thaddius nahm an, dass sich in den anderen vier Särgen die Leichen und Habseligkeiten uralter abellikanischer Mönche befunden hatten. Wahrscheinlich hatten nur einige Knochen und verrottete Stoffreste die Plünderungen überstanden, so wie es beim ersten Sarg der Fall gewesen war. Doch diese letzte ungeöffnete Truhe war kein Sarg. Wer auch immer die Toten hier zur Ruhe gebettet hatte, war bei dieser Truhe besonders sorgfältig vorgegangen. Thaddius nahm an, dass sich einer der hier bestatteten Mönche kurz vor seinem Tod darum gekümmert hatte. Denn dieser Schatz war magisch versiegelt worden und ließ sich nicht mit Gewalt öffnen. Der Stein war mit der magischen Macht des orangefarbenen Zitrinsteins verstärkt und zu einem Stück verschmolzen worden, sodass er sich weder mit Hammer noch Streitkolben oder roher Gewalt zertrümmern ließ.
Bruder Thaddius besaß jedoch etwas anderes als die vorherigen Eindringlinge. Er besaß Ringsteine. Er besaß Magie. Und er hatte diese Magie benutzt: zuerst den mächtigen Sonnenstein, um die vielen Schutzzauber, von denen die Truhe umgeben war, zu entfernen. Dann ein poliertes Stück Zitrin, den Stein der Erde, nicht etwa, um den Deckel aufzubrechen, sondern um ihn sanft vom Rest der Truhe zu trennen.
»Wirst du hineinsehen?«, fragte Elysant nach einer langen Pause.