Die Erde stirbt. Aurélien Barrau
heißen Quellen erkundete die Materie diesen unverwechselbaren, vielleicht einzigartigen Zustand, der so schwer zu definieren und doch so offensichtlich zu erkennen ist. Man weiß nicht so genau, was das Leben ist. Man kann Definitionen aufstellen. Aber würde außerirdisches Leben diesen Definitionen entsprechen? Und wenn das nicht der Fall wäre, wie könnten wir dann wissen, ob es sich tatsächlich um Leben handelt?
Das Leben (oder eigentlich: die Lebewesen) birgt immer noch großen Zauber und viele Geheimnisse. Das Leben schlägt so viele völlig unterschiedliche Wege ein, und diese sind so erfinderisch und unvorhersehbar, dass sie diejenigen, die sie erforschen, immer wieder überraschen und berühren. Jeden Tag werden wahre Schätze an Einfallsreichtum und Schönheit entdeckt, die uns in Erstaunen und Bewunderung versetzen. Man muss nicht bis in die Antarktis fahren und dort Pinguine beobachten: In jedem Quadratmeter Wiese verbergen sich Dutzende von Insekten, deren komplexe Struktur und vielschichtiges Verhalten sich mit einer einfachen Lupe betrachten lassen. Jeder von uns ist ein Teil dieses gewaltigen Gefüges, das aus einer langen, sehr langsamen Evolution hervorgegangen ist. Es ist äußerst zerbrechlich und heute stark gefährdet. Sein Zusammenbruch ist sogar schon im Gange.
Auch die Menschheit treffen die verheerenden Schäden, die sie doch selbst verursacht hat, mit voller Wucht. Auf über der Hälfte der Erdoberfläche (die von mehr als zwei Dritteln der Erdbevölkerung bewohnt wird) ist der Verlust der Biodiversität schon derart massiv, dass sie die lebensnotwendigen Bedürfnisse der Menschen möglicherweise nicht mehr sichern kann. Und das ist ja nun auch nicht ihr einziger Sinn und Zweck.
Sehen wir uns einmal rasch einige ungeordnete Bruchstücke an. Schauen wir uns zunächst einmal ein wenig um, um herauszufinden, wo wir heute stehen.
Auf der Erde leben etwa 10 Millionen Arten von Lebewesen. Jede von ihnen ist aus einer einzigartigen Geschichte voller überraschender Wendungen hervorgegangen.
Das sechste große Artensterben in der Erdgeschichte ist im Gange, daran besteht kein Zweifel mehr. Kürzlich haben zwei Forscher des Nationalen Zentrums für wissenschaftliche Forschung (CNRS) in Frankreich 13.000 Artikel aus den wichtigsten Fachzeitschriften der Naturschutzbiologie analysiert (dies umfasst die Arbeiten von mehr als 100.000 Wissenschaftlern). Das Ergebnis ist völlig eindeutig, es lässt keinen Zweifel daran zu, dass eine Katastrophe im Gange ist: Das Leben liegt im Sterben, und dieser an und für sich schon erstaunlich schnelle Prozess beschleunigt sich aktuell noch. Von den Vögeln über die Säugetiere und Fische bis zu den Insekten sind alle Klassen betroffen.
Innerhalb von 40 Jahren sind in Europa mehr als 400 Millionen Vögel verschwunden, in den Vereinigten Staaten sind es über 3 Milliarden.1 Weltweit ist etwa die Hälfte der Populationen der wild lebenden Arten drastisch geschrumpft. Wenn auch einige Gebiete stärker betroffen sind, zeigt sich doch überall die Tendenz zu einer drastischen Abnahme der Populationen.
Den Berichten des Weltklimarats zur Biodiversität zufolge hat sich das Artensterben seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts verhundertfacht. Und gleichzeitig mit diesem alarmierenden Schwinden der Vielfalt der Lebewesen zeigt sich ein drastisches Einbrechen der Populationen. Selbst wenn eine Tierart noch nicht ganz ausgestorben ist, sterben zahllose Tiere. Seit 1990 ist die Anzahl der Fluginsekten in Deutschland um 80% gefallen. Es gibt nur noch ein paar Tausend Geparde, die Anzahl der Löwen hat sich in 30 Jahren halbiert, die Orang-Utans sind vom Aussterben bedroht. In nur 11 Jahren ist mehr als ein Drittel der Fledermäuse verschwunden.
Das Massensterben hat erschreckende Ausmaße angenommen.
Streng genommen bedeutet das Aussterben einer Art, dass kein Einziger ihrer Vertreter mehr am Leben ist, nicht einmal in einem Zoo. Auch unter dieser sehr engen Definition sterben zahlreiche Arten aus, und das Tempo des Aussterbens beschleunigt sich laufend. Aber das ist in diesem Stadium nicht einmal das aussagekräftigste Kriterium: Vor allem gibt es immer weniger Lebewesen auf der Erde. Dieses „Verschwinden des Lebens“ wird von den Fachleuten zuweilen als „biologische Vernichtung“ bezeichnet. Die Populationen brechen ein. Einige Studien kommen zu dem Schluss, dass die Anzahl der Wirbeltiere seit 1970 um 60% zurückgegangen ist. Bei vielen Wirbellosen ist die Situation noch schlimmer. In der Tat findet hier ein weltweites Massenverbrechen statt, das völlig ungestraft bleibt.
Jedes Jahr wachsen die Städte um etwa 400 Millionen Quadratmeter, und die Zerstörung der Wälder für die Landwirtschaft ist noch besorgniserregender. Weltweit bleibt nur ein Viertel der Landflächen von größeren menschlichen Eingriffen verschont. In 30 Jahren werden nur noch 10% übrig sein, größtenteils in den Wüsten, Berggebieten und Polarregionen.
Durch Umweltverschmutzung kommen wahrscheinlich etwa dreimal mehr Menschen ums Leben als durch AIDS. Sie verursacht jährlich etwa 6 Millionen Tote und nimmt erheblich zu, insbesondere in armen Ländern und in Gebieten, in denen sich die Industrie rasch entwickelt.
Heute herrscht in 17 Ländern „Wassernotstand“ und in 27 weiteren (einige davon liegen in Europa) „große Wasserknappheit“. Für mindestens ein Viertel der Weltbevölkerung könnte bald das Wasser knapp werden.
An einem einzigen Tag sind im Sommer 2019 in Grönland mehr als 11 Milliarden Tonnen Eis geschmolzen. Im gleichen Sommer nahmen die verheerenden Brände in Amazonien um 83% zu.
In den Schelfmeeren sind in 100 bis 200 Metern Wassertiefe nur noch 1 bis 2% der einstigen Fischpopulationen übrig.
Die Zerstörung eines Gutteils des Great-Barrier-Korallenriffs – ein Ort, der zu Recht als Sinnbild der Biodiversität gilt – ist schon weit fortgeschritten. Die Mangroven gehen rapide zurück. Riesige Flächen am Meeresgrund sind durch Förderaktivitäten völlig verwüstet.
Durch das Abschmelzen der Gebirgsgletscher wird zunächst zu viel Süßwasser freigesetzt, anschließend wird das Wasser dann für die etwa 2 Milliarden Menschen, die direkt davon abhängen, schnell knapp werden.
Die Phänologie2 der Pflanzen verändert sich rasch und trägt zum Zusammenbruch der Artenvielfalt in der Pflanzenwelt bei. Dadurch verstärkt sich wiederum die Erderwärmung: Wenn die Anzahl der Arten abnimmt, steigen der Stickstoffgehalt und die Temperatur der Böden. So kommt es zu immer neuen Kettenreaktionen.
Die Pflanzen verschwinden mit einer Geschwindigkeit, die 350-mal über der historischen Norm liegt.
Mehr als 15 Milliarden Bäume werden jedes Jahr vernichtet, nur 46% des vor dem Beginn der Landwirtschaft vorhandenen Baumbestands sind heute noch übrig.3
Ungefähr 1000 Milliarden Meerestiere werden jedes Jahr vom Menschen getötet. Wenn die Fischernetze eingeholt werden, platzt durch die Dekompression die Schwimmblase, die Augen treten aus den Augenhöhlen, oftmals tritt der Magen durch das Maul aus. Die Überlebenden sterben langsam, sie ersticken oder werden erdrückt, dabei kann angesichts der kognitiven und sensorischen Fähigkeiten der Fische kein Zweifel mehr daran bestehen, dass sie Schmerz empfinden. Zahlreiche Arten sind bedroht. 30 Millionen Quadratkilometer Meerwasser werden heute von Fischernetzen durchsiebt: Es handelt sich um eine kontinuierliche, undifferenzierte, gnadenlose Zerstörung.
Allein 2016 summierte sich die industrielle Fischerei auf mehr als 40 Millionen Stunden Arbeitszeit, die Schiffe haben 19 Milliarden kWh Energie verbraucht und 460 Millionen Kilometer zurückgelegt (das ist mehr als das 35 000fache des Durchmessers der Erde). Drei Viertel der Meeresoberflächen sind betroffen.
Die Süßwasserfische verschwinden noch schneller, der drastische Rückgang der Populationen wird auf etwa 4% pro Jahr geschätzt. In den letzten 40 Jahren sind die Populationen der großen Arten wahrscheinlich um 88% geschrumpft. Und aktuell sind 3700 Stauwerke im Bau oder in Planung. Sie sind einer der Hauptgründe für diesen dramatischen Schwund.
Auch die Biomasse des Zooplanktons scheint rasch abzunehmen, was erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Nahrungskette hat.
Vor Kurzem haben Untersuchungen, die in Belgien an toten Meisenküken durchgeführt wurden ergeben, dass 95% der entnommenen Proben Pestizide enthielten. Mehr als 36 verschiedene Typen wurden dabei nachgewiesen, darunter DDT, das doch schon seit Jahrzehnten verboten ist.
Das Leben auf der Erde ist also in Gefahr, sowohl auf der Ebene der Arten als auch auf