Zephiros Tasche. Besra Ode

Zephiros Tasche - Besra Ode


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      Inhalt

       Kassim

       Der Besuch

       Vierzig Tage

       Die zweite Karawane

       An der Quelle

       Von Süden nach Norden

       Besra Ode (Autorin)

      1970 im badischen Lörrach geboren, hat an der Universität Basel in Wirtschaftswissenschaften promoviert. Nach mehreren Auslandsaufenthalten, unter anderem in England, Island, Italien und der Mongolei, lebt sie heute in der Schweiz und arbeitet für verschiedene soziale Institutionen als Projektleiterin. Seit 2017 ist sie nebenberuflich als Erwachsenenbildnerin und als Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache tätig.

       Sonja Müller-Späth (Illustratorin)

      wurde 1987 in Mainz geboren. Während ihrer Ausbildung zur Modedesignerin in Mannheim entdeckte sie ihre Liebe zur Illustration und setzte ihr Studium an der Münster School of Design mit dem Schwerpunkt Illustration fort. Heute arbeitet sie in Koblenz als freiberufliche Illustratorin. Auf dem Papier provoziert sie gerne unberechenbare Fehler und ist immer auf der Suche nach glücklichen Zufällen. Denn oft sind es diese kleinen Makel, die unsere Augen faszinieren und den Bildern ihren ganz eigenen Ausdruck verleihen.

       Wenn du dich selbst

       Und jemanden anderen

      Als ein Wesen siehst,

       Wenn du den freudigsten Tag

       Und die schrecklichste Nacht

       Als denselben Moment erkennst, dann

       Ist das Bewusstsein

      All-Eins.

      Lallaji, indische Mystikerin aus dem 14. Jahrhundert

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      image Kassim image

      Alle Menschen haben Geburtstag. Aber nicht allen Menschen ist dieser Tag gleich wichtig, dachte Kassim, als er aufwachte. Ein schmaler Sonnenstrahl fiel durch das kleine Fenster auf den Vorhang, der seine Schlafkammer von der Wohnküche trennte. Kassim beobachtete, wie der leuchtende, dünne Streifen langsam über den Stoff wanderte.

      Für manche Menschen ist es nicht wichtig, ob sie Geschenke bekommen oder ob sie an diesem Tag etwas Besonderes sind und andere an sie denken, ging es ihm durch den Kopf. Babbo ist so ein Mensch. Babbo braucht fast nichts. Und das ist noch nicht alles, er denkt zuerst an die anderen und nicht an sich selbst.

      Es war Kassims Geburtstag. Ein Tag, an dem er so lange schlafen durfte, wie er wollte, und das kam ihm an diesem Morgen besonders entgegen, denn er hatte die ganze Nacht Geschichten über Jago gelesen. Ob Jago seinen Geburtstag feierte? Kassim jedenfalls freute sich darüber, dass hinter dem Vorhang in der Küche ein Geschenk auf ihn wartete und dass es, wie jedes Jahr, am Abend sein Lieblingsessen geben würde. In dem Sommer, in dem er lesen lernte, hatte das Buch über Jago auf dem Esstischchen gelegen, er konnte sich noch gut daran erinnern.

      »Ich warte noch ein bisschen, nur ein ganz kleines bisschen«, sagte er zu sich, verschränkte seine Arme unter dem Kopf und betrachtete die tanzenden Staubkörnchen im Sonnenstrahl. Durch das Fenster hörte er einen Schwarm Sperlinge, die draußen in den Büschen zeterten. Wäre mein Leben doch nur so aufregend wie das von Jago, dachte er.

      Vor seinem inneren Auge stiegen wieder die Bilder der Geschichte des jungen Mannes auf, der seine Familie und die Bewohner des kleinen Dorfes, in dem sie alle lebten, vor einem bevorstehenden Steinschlag warnte und so rettete. Dann hatte er seine verwitwete Mutter und die jüngeren Geschwister über den hohen Gebirgspass in die Stadt geführt, wo sein Onkel wohnte. Es war ein langer, kräfteraubender Marsch mit vielen Gefahren. Sie mussten über steile Felsgrate steigen und tiefe Schluchten überwinden. Das Fleisch wilder Tiere, die sie erlegten, sicherte ihr Überleben. Die Menschen, denen sie unterwegs begegneten, waren nicht immer freundlich und forderten Jago heraus. Aber er meisterte jede Bewährungsprobe und am Ende, als die Familie in ihrem neuen Zuhause in der Stadt ankam, war Jago für alle ein Held.

      Kassim setzte sich auf den Rand seines Bettes und hob das Buch über Jago auf, das neben dem Nachtkästchen auf dem Boden lag. Er schlug es nicht auf, sondern betrachtete den dunkelblauen Leineneinband, der schon ganz abgegriffen war. Wie so oft fragte er sich, ob er ebenso unerschrocken wie Jago wäre, wenn es darauf ankäme und ob auch er das Zeug zum Helden hatte. Würde er selbst irgendwann eine gute Geschichte über sein Leben zu erzählen haben? Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber er hoffte es. Dann gab er sich einen Ruck, legte das Buch wieder zurück neben sein Bett, stand auf und zog den Vorhang zur Seite, so dass die Morgensonne ihre Strahlen in seine Schlafnische werfen konnte.

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      Auf dem runden, niedrigen Holztisch, der umringt von breiten Kelimkissen und zwei Hockern in der Mitte der Wohnküche stand, lag – wie erwartet – neben einem Milchkrug, Brot und Käse ein braunes Päckchen. Kassim ließ sich Zeit, trat zur Kommode an der Wand, holte eine alte Blechschüssel mit Wasser hervor und wusch sich das Gesicht. Dann setzte er sich auf eines der Kissen an das Tischchen, nahm das Geschenk und tastete es ab. Behutsam löste er das Papier. Zum Vorschein kam eine rehbraune Lederscheide, in der ein Messer steckte.

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      »Grundgütiger, Babbo!«, rief er laut. Er hätte in diesem Augenblick gerne seine Freude mit jemandem geteilt, aber sein Großvater hatte bereits zu früher Stunde das Haus verlassen. Er zog das Messer aus der Scheide und konnte kaum glauben, was er da in seinen Händen hielt. Die feine Klinge glänzte wie ein Spiegel und der schmale Griff war aus einem schwarzen Holz, das er nicht kannte. In aufwendigen Intarsien aus Perlmutt stand dort sein Name. »Kassim«, las er und strich voller Bewunderung mit dem Daumen darüber. Endlich ein richtiges Messer, das nur mir gehört, dachte er.

      Er stand auf und ging zu seiner Jutetasche, die neben der Kommode an einem Eisenhaken hing.

      »Und dich – dich brauche ich nun nicht mehr«, sagte er laut und fischte ein altes Klappmesser aus dem Beutel. »Aber ich danke dir für deine guten Dienste.«

      Sein Großvater hatte es vor vielen Jahren aus dem Tontopf neben dem Herd gezogen, ihm gegeben und gesagt: »Vorerst musst du dich mit diesem Taschenmesser hier begnügen. Wenn du älter bist, wirst du dein ganz persönliches bekommen.« Vierzehn Jahre alt musste er dafür werden. Kassim hielt das kleine Messer nochmals für einen Moment fest in der Hand und betrachtete es, als würde er etwas ansehen, das längst vergangen war. Dann steckte er es zurück in den Tontopf zu den Kochlöffeln und schnallte sich seine neue Lederscheide an den Gürtel. Mit dem neuen Messer schnitt er eine Ecke vom Käse ab. Es lag gut in der Hand und war scharf. Er hatte


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