Zephiros Tasche. Besra Ode
und der euch wohlbemerkt seither auch nicht mehr besucht hat, nach Meside bringen?«
Kassim beobachtete, wie sein Freund ein Stück Akazienholz in die Hand nahm, als prüfe er, ob sich daraus vielleicht nicht doch noch etwas Schöneres machen ließe als nur Späne zum Anheizen.
»Was für ein merkwürdiger Auftrag«, stellte Mehmet nach einer Weile fest und legte das Holzscheit beiseite. Es schien Potenzial zu haben.
»Möglicherweise ist die Tasche für Zephiro von persönlichem Wert. Vielleicht hat er sie von seinem Vater geschenkt bekommen und dieser wiederum von seinem. Es könnte doch ein Erbstück sein?«, versuchte Kassim eine Erklärung zu finden, aber er hatte sich in der vergangenen Nacht dasselbe gefragt wie Mehmet.
»Kassim, so, wie Zephiro lebt, müssen die Tasche und ihr Inhalt eine Bedeutung haben. Mit seinem Edelsteinhandel ist er sehr wohlhabend geworden, ohne sich je darum bemüht zu haben. Er tat einfach das, was seine Berufung war«, hatte Babbo am Vorabend erzählt.
»Und du gehst allein, ohne deinen Großvater.« Mehmet ließ es mehr nach einer Bestätigung als nach einer Frage klingen.
»Es hat mich auch überrascht, aber offenbar traut er mir das zu.« Kassim war stolz darauf, in den Augen seines Großvaters erwachsen genug zu sein, um die Wüste bis nach Meside ohne dessen Begleitung zu durchqueren. »Was meinst du, wird man nur für das geliebt, was man tut?«, fragte Kassim plötzlich. Noch bevor Mehmet antworten konnte hörten sie plötzlich eine Frauenstimme, die vor Wut keifend vom Dorfplatz herüberschallte:
»Kassim, Kassim, was bist du für ein Träumer! Wo steckst du? Kannst du nicht einmal auf deine Geißen aufpassen? Sie sind schon wieder in meinen Gemüsebeeten und fressen meinen Salat!«
Kassim schaute zum Eingang. »Oje, eure Nachbarin. Sie würde mir am liebsten den Kopf abreißen, wenn sie mich nur pfeifen hört. Ich muss weiter. Ich habe meine Streuner schon zu lange vernachlässigt.« Er erhob sich von dem Holzpflock, auf dem er die ganze Zeit gesessen hatte.
»Sie folgen nur ihrer Natur. Für irgendetwas muss ein Hirte ja gut sein …«, entgegnete Mehmet schelmisch.
»Nicht du auch noch!«
»Komm schon!«, lachte er laut auf. »Warte! Soll ich Zia etwas sagen? Von deiner Reise, meine ich?«
Kassim nickte mit dem Kopf und ging nach draußen auf den staubigen Platz. Er sah, wie die Nachbarin laut schimpfend versuchte, seine wildernden Ziegen aus ihrem Garten zu verjagen.
»Viel Glück!«, rief es aus der Scheune hinter ihm.
Das kann ich gut gebrauchen, dachte er. Mit seinem Stock trieb er seine kleine Herde zusammen, während sich die Schelte der Frau über ihn ergoss und er sich dabei noch mehr als sonst nach der Freiheit und Ruhe auf dem Berg sehnte.
Das Haus, in dem Kassim mit seinem Großvater lebte, stand ein wenig außerhalb des Dorfes, in dem Mehmet und seine Familie lebten. Es lag in unmittelbarer Nähe des Baches, der sich in der Ebene des Tales durch den Zustrom weiterer Quellen verbreiterte. Zwei Wege führten von ihrem Haus fort, der eine ging Richtung Nordwesten zum Dorf und der andere verlief entlang des Bachbettes in Richtung Süden. Im Norden sah man die schneebedeckten Gipfel der Berge, die südostwärts erst in sanfte Hügel und schließlich in die weite Wüste ausliefen.
Das sonnige Hochtal war sehr fruchtbar mit endlosen Feldern von Weizen, Hirse, Mais und Kartoffeln. Der Großvater besaß keinen Acker, aber hinter dem Haus einen üppigen Garten, in dem er neben Gemüse vor allem Kräuter und Gewürze anbaute.
Zweimal im Jahr begleitete Kassim ihn nach Kadut, der Stadt am Fuße der Berge, die gleichzeitig die Grenze zur Wüste markierte. Hier pflegten sie ihre Erzeugnisse Gaspar José zu bringen, der ein guter Bekannter war und ein gut laufendes Geschäft führte.
Der Kaufmann zahlte immer einen guten Preis, weil die Waren des Großvaters äußerst gefragt waren. Der Honig wurde Gaspar José fast aus den Händen gerissen, denn er war reich an Propolis, die der alte Mann dem Honig beimischte. Das verlieh ihm einzigartige Heilkräfte. Man konnte ihn ebenso äußerlich wie innerlich anwenden. Er reinigte Verletzungen und half der Haut zu heilen. Eingenommen stärkte er die Widerstandskräfte gegen Krankheiten und nicht zuletzt war er ein begehrtes Schönheitsmittel. Auch der von Babbo selbst gezüchtete blaue Pfeffer war beliebt. Botanisch betrachtet zählte die Sorte nicht zur Gattung des echten Pfeffers, der in Indonesien angebaut wurde, die schwarzblauen Beeren wurden dennoch so bezeichnet. Sie hatten einen ähnlichen, aber reichhaltigeren Geschmack als der echte Pfeffer und verfügten obendrein über eine reinigende Wirkung. Wie der seltene Safran, den man im ganzen Land sammelte, wurde auch dieses Gewürz mit Gold aufgewogen.
Jedes Jahr bat Gaspar José Babbo darum, er möge doch größere Mengen des blauen Pfeffers anbauen und weiteren Honig gewinnen, seine Stammkunden würden laufend mehr davon verlangen. Aber dieser schüttelte nur den Kopf und meinte: »Es freut mich, dass die Früchte meines Gartens und die Arbeit meiner Bienen geschätzt werden, aber wo käme ich hin, würde ich den Wunsch der Menschen nach immer mehr und mehr ernst nehmen?«
Kassim war früh aufgestanden und holte frisches Wasser am Bach, der sich, gesäumt von Büschen und niedrigen Bäumen, an der Grenze ihres Gartens entlangschlängelte. Als er mit seinen vollen Wassereimern zurückkehrte, sah er, dass am Gatter der kleinen Weide ein dunkles Maultier angebunden war. Es hatte einen reich verzierten schwarzen Sattel, unter dem eine auffällig gemusterte rote Decke hervorblitzte. Die noble Ausstattung des Tieres machte ihn neugierig. Rasch füllte er das Wasser in die Tonne an der Hauswand und betrat die Stube. Sein Großvater schenkte gerade einer unbekannten Frau, die am Esstischchen saß, eine Schale heißen Schwarztee ein. Ihr kräftiges Haar war von ein paar grauen Strähnen durchzogen und im Nacken zu einem festen Knoten gebunden. Sie saß betont aufrecht und im Schoß lag über ihren geschlossenen Knien eine blaue Seidentasche.
»Das ist mein Enkel«, sagte Babbo und winkte ihn zu sich.
»Guten Tag, ich komme aus Monte und halte mich für ein paar Tage bei einer entfernten Verwandten im Dorf auf«, erklärte die Fremde dem Jungen und lächelte ihn an. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass hier ein außergewöhnlich kluger Mann lebt und nun bin ich hier, um seinen Rat einzuholen.«
»Babbo ist der weiseste Mensch, den ich kenne«, antwortete Kassim. Sie schaute ihn mit großen Augen an und lächelte zufrieden.
»Ein schöner Flecken, Euer Monte. Ein sonnenverwöhnter Landstrich«, sagte der Großvater.
Der Ort lag auf der Westseite der Berge und war einen Tagesmarsch von ihrem Dorf entfernt. In einem Winter waren sie einmal dort gewesen.
Die Frau deutete auf einen prallen Jutesack, den sie neben der offenen Haustür abgestellt hatte.
»Ich habe Ihnen etwas von unserer letzten Ernte mitgebracht. Ein paar Kilo getrocknete Aprikosen und süße Feigen.«
»Wie großzügig von Euch. So schickt die Sonne von Monte auch zu uns ihre Strahlen«, entgegnete der Großvater freundlich und setzte sich zu ihr in den Schneidersitz an das Tischchen. Kassim ging zur Truhe, in der Zephiros Tasche aufbewahrt wurde, und ließ sich auf ihr nieder. Er wollte die Nähe der beiden nicht stören. Es ist immer das Gleiche. Wenn die Menschen sich mit Babbo unterhalten, wollen sie seine ganze Aufmerksamkeit, wusste er. Außerdem mochte er den etwas versteckten Platz auf der Kiste. Mit dem Rücken angelehnt an der Wand und angezogenen Beinen hatte er von dort aus schon einigen spannenden Gesprächen gelauscht. Die Frau begann zu erzählen:
»Mein Anliegen ist Folgendes: Mein Mann und ich – wir sind kinderlos – besitzen