Der Erzählstein. Khalid Aouga

Der Erzählstein - Khalid Aouga


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nach Beirut gezogen, da er große Schwierigkeiten mit seinem Vater hatte. Er wohnte bei einem Verwandten im Hinterhof und arbeitete in einem Lebensmittelgeschäft. Seine Aufgabe bestand anfangs darin, den Kunden die Einkäufe nach Hause zu tragen und den Laden zu putzen. Er verdiente nicht viel und nicht genug, um davon leben zu können. Doch die meisten Kunden hatten ihn ins Herz geschlossen und schenkten ihm Kleidung und Schuhe, die ihren Kindern nicht mehr passten. Die Mahlzeiten bekam er meistens von seinem Chef, von den Kundinnen und ihren Haushälterinnen. Ein Zubrot hatte er sich dadurch verdient, dass er nur ein Teil der ihm geschenkten Sachen behielt und den Rest verkaufte. Mit dem Geld, das er verdiente, ging er sehr sparsam um. Fast nichts davon gab er aus, außer für seine ersten Bücher. Als die Kunden seine Leselust bemerkten, erhielt er auch Bücher geschenkt oder geliehen. Es sprach sich im Viertel schnell um, dass er lesen und schreiben konnte.Von da an verwandelte sich der Laden in ein Schreibbüro. Er las den Leuten Briefe vor, die sie von ihren Verwandten bekamen und schrieb für sie, auch in sehr vertraulichen Angelegenheiten. Die Menschen rechneten es ihm hoch an, dass er trotz seines jungen Alters deren Geheimnisse für sich behielt. Seitdem trug er den Spitznamen »Alamin«. Er war sehr glücklich über diese Bezeichnung, denn auch den Propheten Mohammed nannte man schon in seiner Jugend »Alamin«, was soviel bedeutet wie »der Vertrauenswürdige« oder »der Bewahrer des Anvertrauten«. Es hieß: »Geh zu Hassan, Hassan Alamin, der kann für dich schreiben.« Oft wurde entgegnet: »Aber das ist sehr vertraulich.« Sie antworteten:

      »Für unseren Alamin nicht.« Es wurde erzählt, dass die Polizei ihn eines Tages abholte. Als sie ihn nach zwei Tagen vor dem Laden absetzten, konnte er nicht laufen und auch nicht sprechen. Sein Chef, der ihn mittlerweile wie seinen eigenen Sohn behandelte, rannte aus dem Geschäft hinaus, als er ihn sah und trug ihn mithilfe von anderen Nachbarn in seine Wohnung über dem Geschäft. Er stotterte nur, dass er nichts verraten habe. Er war ein Held, mit Fünfzehn ein Held. In einer Zeit, in der erwachsene Männer für einen schönen Abend ihr Land verkauften.

      Es war das Jahr 1956. Israel, Frankreich und England griffen Abdel Nassers Ägypten an oder wie es die ach so freien Journalisten ausdrückten: »In einer Militäraktion hat Israel Ägypten angegriffen − mit der Hilfe von Frankreich und England − und konnte den größten Teil der Sinai-Halbinsel besetzen.« Die Welt funktionierte damals ganz anders, so anders, dass die Amerikaner und Russen die Israelis dazu brachten, sich aus Ägypten zurückzuziehen.

      Kapitel 3

      Der Chef der beiden Beamten saß hinter einem großen Schreibtisch. Als wir sein riesiges Büro betraten stand er auf, lief sieben Schritte auf uns zu und streckte mir die Hand entgegen. »Herr Talal, Rolf Bertram ist mein Name«, sagte er und führte mich zu einer Couch. »Danke meine Herren, Sie können gehen«, sagte er zu den Männern, die mich begleitet hatten, bevor er sich in einen Sessel zu meiner linken Seite setzte. Auf dem Couchtisch vor uns standen zwei Gläser, zwei weiße Tassen, eine Flasche Wasser und eine Kanne. Ich saß nur da und beobachtete den Mann, der sich anschickte, Kaffee von der Kanne in die Tasse zu schütten. »Trinken Sie einen Kaffee?«, fragte er, ohne mich anzusehen.

      »Nein danke, ein Wasser wäre gut.« Als der Zerberus in der schwarzen Lederjacke mir sagte, es gehe um meinen Vater, hatte sich irgendwie ein Hebel in mir umgestellt. Ich war nicht mehr der Anton, der sich in einem Land befindet, in dem fast alles in geregelten Bahnen läuft, wo man sich in Sicherheit fühlt und wenn man sich bedroht fühlt oder verletzt ist, einfach einen Anruf tätigen muss und schon ist Hilfe unterwegs. Ich wurde zu dem Anton, der sich in Beirut befindet. In Beirut rechnet man mit allem, auch mit Dingen, die man sich nicht vorstellen kann.

      Zu diesem Zeitpunkt lebte ich schon seit zwanzig Jahren in Deutschland und war nur zwei Mal in Beirut gewesen. Beide Male waren schön und schmerzhaft zugleich. Der Mann, welcher sich mir mit dem Namen Bertram vorstellte, stellte das Glas Wasser vor mir auf den Tisch. Ich hob es bis kurz vor meinem Kinn an, schaute einige Sekunden gedankenversunken in das Wasser, trank es dann in einem Zug leer und stellte es wieder ab. Er schenkte mir Wasser nach und sich selbst einen Kaffee ein. Dann erzählte er mir, dass sie selbst nicht wüssten, wo mein Vater steckte, was ihnen große Sorgen bereitete. Er könnte bei den Israelis, den Syrern oder bei irgend einer libanesischen Miliz sein. »Erzählen Sie mir bitte etwas Neues«, unterbrach ich ihn.

      Als wir noch Kinder waren, wurde mein Vater aller paar Monate entführt. Das war nichts Ungewöhnliches in Beirut. Man musste nur zahlen, es war ein Geschäftszweig der Milizen.

      Ich lehnte mich etwas vor und sprach weiter.

      »Ich frage Sie, warum, zum Beispiel, die Deutschen sich für die Sicherheit eines Libanesen interessieren, warum Sie mich hierher bringen lassen und was die Aktion am Bahnhof zu bedeuten hat?« »Das mit dem Libanesen stimmt nicht. Ihr Vater besitzt den deutschen Pass«, sagte er nicht sehr überzeugend. »Da unten brodelt es zurzeit so sehr, dass wir sein Verschwinden sehr ernst nehmen müssen.« Er machte eine dieser gelernten Pausen, zumindest wirkten diese Pausen auf mich künstlich. Bestimmt zählte er jedesmal bis fünf, bevor er weiter sprach. »Es sieht so aus als ob wir kurz vor einem Krieg stehen«, führte er fort und zog die Stirn dabei kraus. Ich wollte ihm am liebsten sagen: ›Ihr verdammten Geheimdienste seid mit euren Lügen und Intrigen für die ganzen Kriege verantwortlich‹, doch ich sagte kein Wort, beobachtete ihn um so intensiver. In meinem Kopf schwirrten Worte und Bilder herum, die uns Menschen in letzter Zeit geprägt hatten und wie ich zu meiner Enttäuschung feststellen musste, mich eingeschlossen. Guantanamo, Abughoraib, Kampf der Kulturen, die falsche Moschee und die Geschichte des Deutsch-Libanesen, der vom CIA entführt und gefoltert wurde.

      ›Anton‹, dachte ich, ›du bist zwar in Deutschland, aber dieses ist wahrscheinlich ein recht freier Raum.‹ Ich schaute instinktiv zu den beiden großen Fenstern, ›Kann man sie mit den Griffen öffnen oder sind es nur Attrappen?‹ Wie nah Beirut doch sein konnte. Er merkte, dass ich ihm nicht zuhörte und schwieg eine Weile. Erst als ich ihn wieder ansah, sprach er weiter. »Offiziell wissen wir nichts von seinem Verschwinden, deshalb können wir eigentlich auch nichts unternehmen.« Er presste seine Lippen zusammen und zeigte auf mich. »Da kommen Sie ins Spiel.« »Wie stellen Sie sich das vor? Soll ich mich in Beirut mitten auf die Straße stellen und wie ein Kind nach meinem Vater rufen?« »Sie müssen nur so tun als ob, den Rest erledigen andere Leute.«

      »Bertram, ist das ihr richtiger Name?« Ohne die Antwort abzuwarten, sagte ich: »Sie haben Zweifel, was meine Loyalität als ein Bürger dieses Landes angeht. Deshalb haben Sie das Theater in der U-Bahn veranstaltet.« »Es war nicht meine Idee«, sagte er.

      »Denken Sie, dass das Misstrauen der Muslime dem deutschen Staat gegenüber gerechtfertigt ist?« fragte ich. »Nein, ist es nicht«, antwortete er . »Solange Menschen wie Sie das denken, ist es doch«, sagte ich und erklärte ihm, dass ich ohnehin vorhatte, nach Libanon zu fliegen.

      Kapitel 4

      Während meiner Abwesenheit musste sich mein Bruder Christopher um das Geschäft kümmern. Es waren Sommerferien, da lief nicht viel und wir hatten mehr als genug Autos auf dem Platz stehen. Christopher war zwei Jahre jünger als ich. Als er 1974 auf die Welt kam, bekam er den Namen Mohammed und ich hieß noch Omar. 1975 brach erneut der Bürgerkrieg aus. Unsere Namen änderte Vater aus Angst um uns und wir zogen nach Ost-Beirut, dem christlichen Teil Beiruts. Er hatte hoch gespielt und uns damit das Leben gerettet.

      Christopher war ein wunderbarer Mensch. Wir waren auch als Erwachsene immer zusammen. Ich liebte ihn über alles. An dieser Liebe hat sich bis heute nichts geändert. Er war so ehrlich und geradlinig, dass die meisten ihn seltsam fanden. Er war sehr ernst, außer wenn wir alleine waren. Auf der Liste meiner liebsten Menschen stand er an erster Stelle. Was ihn anging, kannte ich keine Kompromisse.

      Ich hatte einmal eine Freundin. Wir waren gerade eine Woche zusammen, als sie mich im Laden besuchte. Ich begleitete sie zum Büro, wo Christopher gerade ein Telefonat beendet hatte. »Gerade ist eine Ladung Autos gekommen, ich muss abladen, bevor die Geier vom Ordnungsamt kommen«, sagte ich.

      »Das ist mein Bruder Christopher … Christopher, das ist die Tanja.« Und ich ließ sie alleine, um meine Arbeit zu erledigen.

      Bevor ich mit dem Abladen fertig war, sah ich, wie


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