Der Erzählstein. Khalid Aouga

Der Erzählstein - Khalid Aouga


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haben wollte, auch seine ganze Familie bekam. Würde sie ihn alleine für sich haben wollen, so würde sie ihn, sich selbst und seine Familie unglücklich machen. Familie bedeutete Eltern, Geschwister, Nichten, Neffen, Tanten, Onkels, Cousinen und Cousins und zwar nicht nur ersten Grades. Christopher sagte, man musste den westeuropäischen Frauen gegenüber von Anfang an ehrlich sein, damit sie wussten, worauf sie sich einließen, bevor es zu spät war.

      Ich hatte die Autos abgeladen. Bevor ich sie gemeinsam mit unserem Mitarbeiter Khalil vernünftig parkte, ging ich ins Büro, um uns Wasser zu holen.

      »Hi Tanja, ich wusste gar nicht, dass du rauchst,« sagte ich beim Vorbeigehen und öffnete die Tür zum Büro. Das Büro befand sich in einem Baucontainer. Diese Tatsache vergaß man, sobald man darin war. Es war mindestens genauso modern eingerichtet wie die Büros in den Hochhäusern. Der Boden war mit dunklem Parkett ausgelegt, die Wände waren in der Farbe beige gehalten, verziert mit einigen wenigen Ornamenten in verschiedenen braunen Schattierungen. Die Möbel, vom Schreibtisch über die Kommode bis hin zu den Stühlen, rundeten in den Farben weiß und braun das geschmackvolle Bild im Raum ab. Es war Christophers Werk. Er hatte ein Händchen dafür.

      Ich stand vor dem Kühlschrank, drehte mich zur offenen Tür und fragte Tanja, ob sie etwas trinken möchte. Sie lehnte ab. Christopher kontrollierte die Einfuhrpapiere. Er ging gerade die Listen durch, bevor er die Papiere in die jeweiligen Ordner heftete. Als er merkte, dass ich ihn ansah, hob er seine Schultern und zog seine Augenbrauen hoch. Ich nahm zwei Flaschen Wasser, eine für mich und eine für Khalil, ging wieder nach draußen und schloss die Tür hinter mir. Ich schaute zu Tanja, um ihr zu sagen, dass ich noch ca. eine Stunde bräuchte. »Kann ich dich kurz sprechen?«, kam sie mir zuvor. Eigentlich hatte ich keine Lust zu reden. Sie hatte mich auf der Arbeit überfallen, was ich gar nicht mag und außerdem gab es noch eine Menge zu tun.

      »Worum geht es«, fragte ich noch freundlich. »Weißt du, dein Bruder …«, setzte sie an. »Schau mal Tanja«, unterbrach ich sie. »Damit wir uns verstehen: Wenn man tausend Tanjas auf die eine Waagschale und das Lächeln meines Bruders auf die andere lege, dann würde sein Lächeln schwerer wiegen.« Kaum hatte ich zu Ende gesprochen, bedauerte ich meine Worte schon. Woher sollte sie wissen, wieviel mir Christopher bedeutete. Sie war nicht dabei, als eine Autobombe unsere Mutter zu Boden riss. Wie wir neben ihr saßen, die Blutlache unter ihrem Kopf immer größer wurde, bis wir in ihr saßen und sie mit geschlossenen Augen sprach: »Lass deinen Bruder nie im Stich.«

      Ich war davon überzeugt: Ihre Worte galten mir. Nur ein paar Tage später musste ich auf eine schreckliche Weise erfahren, dass Christopher der gleichen Überzeugung war.

      Es hatte heftige Kämpfe gegeben. Christopher und ich mussten uns unter einem LKW verstecken.

      Während einer Feuerpause wollten wir so schnell wie möglich nach Hause. Dort angekommen standen neben unserem Hauseingang vier Männer um einen Handkarren, der mit einem dunklen Stoff bedeckt war. Wir gingen an den Männern vorbei. Da packte mich einer von ihnen an der Schulter und drehte mich mit einem heftigen Ruck um. »Wie heißt du, mein Junge?«, fragte er mich. »Anton«, sagte ich.

      »Wenn das kein Zufall ist«, sagte er, den anderen Männern zugewandt. Er beugte sich zu mir, blickte mir mit seinen wahnsinnig wirkenden, blutunterlaufenen Augen tief in die meinen und sagte: »Ich heiße auch Anton. Ich habe eine ehrenvolle Aufgabe für dich.«

      Ich sollte die Karre die Straße hinunter schieben und genau an der zweiten Kreuzung, nach dem Friseurladen, umkippen. »Und danach rennst du so schnell du kannst nach links«, sagte er, zeigte mit seiner Hand nach links und fragte mich: »Wo lang läufst du dann?« »Nach links«, antwortete ich.

      »Gehe ins Haus«, sagte ich zu Christopher. Er schüttelte nur den Kopf. »Gehe nach Hause, habe ich dir gesagt«, schrie ich. Der Mann schlug Christopher so fest mit der offenen Hand ins Gesicht, dass er auf den Boden fiel. »Warum hörst du nicht auf deinen Bruder?!« Ich wollte auf den Mann losgehen, sah ihn aber eindringlich an, um mir sein Gesicht fest einzuprägen.

      Aus der Karre roch es stark nach Blut und mir wurde langsam übel. Christopher stand auf. Er blutete aus der Nase. Sein Blut vermischte sich mit dem Blut in der Karre. Er klammerte sich an meinen Arm und sagte schluchzend: »Ich darf dich nie im Stich lassen.«

      Die Wut vertrieb meine Angst und die Übelkeit. Ich packte die beiden Griffe der Karre und drückte sie nach unten um das vordere Untergestell vom Boden abzuheben. Christopher ließ mich nicht los.

      Ich schob, aber ich durfte nicht weinen. Ich musste tapfer sein und dachte angegestrengt nach. Nachdenken war wichtig, um zu überleben. Mühsam schob ich die Karre bergan. Das Blut, welches anfangs aus der Karre tropfte, floss mir nun auf die Schienbeine und kroch mir in die Schuhe. Ich durfte mich nicht ablenken lassen.

      Kurz vor der zweiten Kreuzung hörte ich Männerstimmen und Geräusche aus einem Funkgerät, die von der rechten Seite zu kommen schienen. Als ich die Karre an der Kreuzung auf den Asphalt kippte, rollten Köpfe von der Ladefläche unter dem Tuch hervor. Sie rollten einige Meter, bevor sie zum Stillstand kamen.

      Christopher stand mit aufgerissenen Augen da und starrte sie an. »Masken, Masken«, sagte ich und zerrte ihn hinter mich. Aber statt nach links zu gehen, begannen wir nach rechts zu rennen. Von den Geräuschen der Karre und den Köpfen wurden die Männer, die nicht weit von der Kreuzung standen, alarmiert. Ich konnte ungefähr zehn Männer ausmachen. »Es waren die Falanjisten!«, rief ich noch im Laufen den Männern zu. »Die stehen da oben!« »Wo genau?«, rief der Mann mit dem Funkgerät. »Hausnummer 37!« Nur zwei liefen in die Richtung, aus der wir kamen. Die restlichen nahmen einen anderen Weg. Sie ließen uns einfach stehen. Auch sie mussten tapfer sein.

      Wir gingen nach einer Weile bis zur Ecke zurück und warteten. Ich stellte mich so hin, dass Christopher die auf der Straße zerstreut liegenden Köpfe nicht sehen konnte. Nicht sehen sollte.

      Dann Schüsse, Stimmen, laute Stimmen und – Stille.

      Wir gingen die Straße hoch. Die zehn Männer kamen uns wieder entgegen. Acht von ihnen zogen paarweise einen der vier Falanjisten an den Hosenbeinen hinter sich her. Als sie an uns vorüber gingen, blieben wir stehen. Unsere Blicke richteten sich auf die Männer, die auf dem Boden geschleift wurden. Das Gesicht eines Mannes hatte sich schon längst, und das für immer, in mein Gedächtnis eingebrannt.

      Als das makabere Defilee vorüber war und wir noch an Ort und Stelle standen, kam der Mann mit dem Funkgerät zu uns zurück. Wir sahen ihn stumm an. Er blieb einige Sekunden ebenso stumm wie wir stehen, beugte sich dann zu uns hinunter und sagte: »Geht nach Hause.«

      Kapitel 5

      Ich bin so oft vom Düsseldorfer Flughafen abgeflogen, ob zu Zielen innerhalb Deutschlands oder in Spanien, Nordafrika, Amerika, Südostasien. Es war immer das Gleiche. Erst bei der Landung bemerkte ich die Unterschiede.

      Es war ein heißer Tag, als ich in Beirut landete. Ich nahm meinen Koffer vom Gepäckband und zog ihn auf den Rollen hinter mir her. Die Zollbeamten nahmen keine Notiz von mir. Mein Cousin Ali wartete in Begleitung von zwei Männern auf mich. Ali umarmte mich herzlich. Die zwei Männer reichten mir nur die Hand und beobachteten konzentriert das Gewühl in der Ankunftshalle.

      Draußen standen mehrere Bustaxen eng nebeneinander. Ali öffnete die Klappe eines Bustaxis. Dort, im hinteren Teil des Wagens, kauerten zwei Männer auf dem Boden. Die Schiebetür gegenüber war ebenso geöffnet und führte in den nebenstehenden Wagen. Wir sind zum anderen Wagen durchgekrochen. Ali ließ meinen Koffer im ersten Wagen liegen. Bevor ich protestieren konnte, fuhren wir los.

      »Keiner wird die Sache mit deiner Reizwäsche verraten«, sagte Ali lachend. Es war mir schon immer ein Rätsel, wie eisern sich die Beiruter ihren Humor bewahrten, auch wenn sie sich in Gefahr wussten, auf der Flucht oder mitten im Krieg. Sie versuchten so gut es geht, ein normales Leben zu führen. Es war vielleicht der Versuch, allen Widrigkeiten zu trotzen. Dabei musste ich an einen Sommertag im Jahre 1982 denken.

      Die Israelis waren in den Libanon einmarschiert. Sie hatten sich das Land am Boden und in der Luft gefügig gemacht. Um alledem zu entfliehen, organisierte unsere Familie einen Ausflug.


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