Der Erzählstein. Khalid Aouga
Das Bustaxi hielt an. Ali stieg aus, ich folgte ihm. Wir liefen durch eine Toreinfahrt. Es war ein Gehöft mit sieben Häusern und einem kleinen Spielplatz in der Mitte. Ali hatte den Schlüssel des dritten Hauses von rechts. Unsere Wohnung lag in der ersten Etage. Aus den Fenstern der hinteren Zimmer konnte man ohne Probleme auf das Dach einer Lagerhalle gelangen. Das beruhigte mich etwas. Ali sah mich an und sagte: »Die Wohnung ist sicher; wir sind nicht alleine« und ging in die Küche. »Was ist mit meinem Koffer?«, fragte ich. »Mahmoud bringt ihn gleich. Er will ihn nach Sendern durchsuchen. Lass uns jetzt was essen.«
Obwohl ich ziemlich aufgewühlt war, schlief ich nach dem Essen ein. Erst Mahmouds Stimme weckte mich auf. Mahmoud, der ältere Bruder Alis, war einer dieser unbeugsamen Optimisten. Er war immer noch bei der Armee, im Gegensatz zu den meisten seiner damaligen Kameraden, die sich 1984 nach einem Aufstand von Schiiten und Drusen den Milizen angeschlossen hatten. Für ihn war klar: Die Gewaltherrschaft musste beim Staat liegen. Kein Zivilist dürfe eine Waffe besitzen. Das war seine Überzeugung und er wusste auch, dass es viel Aufklärungsarbeit und viel Zeit brauchen würde, bis das libanesische Volk diese Überzeugung teilte oder zumindest zur Diskussion stellte. »Assalamu alaikoum, mein Lieber«, sagte Mahmoud von der Küche aus, als er meine Schritte bemerkte. Ich hörte, wie er seinen Stuhl zurück schob und aufstand. »Waalaikoum Assalam«, sagte ich mit ausgebreiteten Armen, als er durch die Tür trat. »Der Riese«, so hatten wir ihn als Kinder genannt, umarmte mich ganz fest und hob mich hoch. »Du hast dich kaum verändert«, sagte ich. »Du aber umso mehr«, entgegnete er erstaunt. Erst wollte ich ihn fragen, wie es seiner Frau und seinen Kindern ginge, ließ es aber sein. Die Antwort auf so eine, eigentlich harmlose Frage, war nicht immer harmlos. Nicht im Libanon. »Wie geht es dir?«, fragte ich. »Mir geht es gut«, sagte er mit seinem herzlichen Lächeln. »Der Kaffee ist fertig«, rief Ali feierlich.
Es war wie in meinen Erinnerungen. Nur war ich jetzt kein Kind mehr, das spielte, während mein Vater, mein Onkel, Mahmoud und andere an einem Tisch saßen und diskutierten. Nun saß ich selbst an einem Tisch.
»Ich werde diese Leute nie verstehen«, sagte Mahmoud. »Sie glauben im Ernst, wir können es mit Israel aufnehmen. Das ist der blanke Wahnsinn.« Er machte eine Pause und fuhr fort. »Weißt du, was passieren wird? Die Israelis werden ein wenig mit ihren Muskeln spielen. Dann wird halb Beirut in Schutt und Asche liegen. Viele Kinder werden zu Waisen, Krüppeln oder sterben. Dann werden die Leute, während sie noch ihre Toten beklagen, den Hisbollahs auf die Schulter klopfen, weil sie es wieder mal den Israelis gezeigt haben.« Er stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch und lehnte sich etwas vor. »Anton, aber das darfst du keinem Libanesen erzählen, auch keinem anderen Araber. Die begreifen es nicht. Das führt nur zu Streitereien.«
»Aus sicherer Quelle wissen wir, dass der Angriff jederzeit erfolgen kann«, sagte Ali. »Deshalb müssen wir uns beeilen.« »Gut, wenn mein Vater bei den Israelis ist, was können wir da unternehmen?«, fragte ich nach. »Wir haben eigentlich alles in die Wege geleitet. Wir warten nur noch auf einen Anruf«, sagte er und schaute dann zum Fenster. »Gleich ist das Abendgebet. In Assalam Moschee wird sich bestimmt jemand freuen, dich zu sehen.«
Kapitel 6
Als 1958 der erste libanesische Bürgerkrieg ausbrach, landeten in Beirut über fünfzehntausend amerikanische Soldaten, um die Lage zu stabilisieren. Mein Vater war gerade 17 Jahre alt und leitete schon das Geschäft, in dem er arbeitete. Er hatte das Sortiment vergrößert, ebenso das gesamte Geschäft. Es wurde zum beliebtesten Laden der Amis. Sie konnten dort alles mögliche bekommen: Zigaretten, Rasierzeug, sogar einige alte Zeitschriften und Bücher. Das Beste war, dass sie auch in Dollar bezahlen oder wechseln konnten. Vater begriff wie fast immer etwas schneller als die anderen, und hängte ein großes Schild mit der Aufschrift EXCHANGE an den Laden. Es war der Beginn seiner kaufmännischen Karriere. Seitdem ging es eigentlich nur bergauf. Mit 21 Jahren gründete er ein In- und Exportgeschäft, und fast alles was er zur Seite legen konnte, investierte er in Grundstücke. Er war damals schon ein reicher Mann mit sehr vielen Beziehungen. Im Laufe der Zeit konnte er auch seine Geschwister mit ihren Familien davon überzeugen, nach Beirut zu ziehen.
Seine erste Frau wurde nur einige Monate nach der Hochzeit Opfer einer palästinensischen Bombe. Es gab Palästinenser, die der Meinung waren, dass sie das Recht auf eine Wohnung in Beirut hatten, auch wenn da schon Menschen lebten. Sie haben einfach die Leute aus ihren Wohnungen vertrieben. Wenn sie auf Widerstand trafen, haben sie als Abschreckung für die anderen das ganze Haus in die Luft gejagt. Durch solche Aktionen wurden einige Häuser meines Vaters zerstört.
Die Beziehungen zwischen den Libanesen und den Palästinensern waren alles andere als gut. Viele Menschen, vor allem die anderen Araber, ärgerten sich über das Misstrauen der Libanesen den Palästinensern gegenüber, ohne die Hintergründe zur Kenntnis nehmen zu wollen. Sie wussten nicht, dass sich die palästinensischen Guerillas, vorwiegend die PLO, damals wie Besatzungsmächte benommen hatten. Sie waren dabei, einen eigenen Staat im Libanon zu gründen. Sie hatten es sich auch mit Jordanien und Syrien verscherzt. Eigentlich hatten sie es sich mit allen verscherzt. Und das palästinensische Volk muss bis heute darunter leiden.
Trotz allem empfand mein Vater keinen Hass gegenüber den Palästinensern. Er hatte für sich eine Möglichkeit entdeckt, daran auch nichts zu ändern. Er besuchte die Flüchtlingslager, so oft es ihm möglich war, und ließ ihnen regelmäßig Lebensmittel und sauberes Wasser zukommen. Durch seine Besuche hatte er einige Menschen kennen gelernt, die zu seinen engsten Vertrauten wurden. Denn für die Lösungen dieser Konflikte brauchte man kluge Köpfe. Dabei lag der Augenmerk auf jenen aus allen Lagern, die sich als verlässlich und ausdauernd erwiesen. Denn es war klar, dass erst die nächsten Generationen die Früchte ihrer Arbeit ernten würden.
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