Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde. Natalka Sniadanko

Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde - Natalka Sniadanko


Скачать книгу

      Das Schreiben war Wilhelm schon als Kind schwergefallen. Bereits die Schönschreibstunden hatte er gehasst und sich wann und wie auch immer möglich davor gedrückt. Aufsätze schrieb er später ebenso ungern; er fand es langweilig, so viel Zeit für etwas zu verschwenden, das er sich auch so vorstellen konnte. Seine Unfähigkeit, sich lange auf eine Sache zu konzentrieren, ließ später auch seine mündlichen Erzählungen chaotisch und unvollständig erscheinen. Manche Episoden erwähnte er oft und detailliert, andere ließ er weg. Deshalb hatte Halyna eine ziemlich bruchstückhafte Vorstellung vom abenteuerlichen Leben ihres Großvaters – ein ähnlicher Eindruck wie beim Schauen alter Dokumentarfilme, die immer wieder reißen: Mit dem Film verknittern auch die Eindrücke und fügen sich an den überraschendsten Stellen wieder zusammen. Während Halyna den chaotischen Erzählungen lauschte, begann sie zu zeichnen. Zuerst nur Gesichter – sie versuchte sich vorzustellen, wie all die Menschen aus Großvaters Erzählungen ausgesehen hatten –, dann einzelne Szenen: Der Großvater langweilt sich als kleiner Junge bei einer höfischen Zeremonie in Wien. Er flüchtet aus dem Schloss der Familie im polnischen Saybusch in die Berge, zu den Huzulen. Er erweist den Soldaten aus seinem ukrainischen Regiment der Sitsch-Schützen die Ehre. Trifft den Metropoliten Scheptyzkyj. Probiert in Paris ein neues Kleidungsstück an. Die Skizzen in ihren Heften erinnerten an Comics, mit dem einzigen Unterschied, dass die Geschichten nicht chronologisch geordnet waren. Nach Ereignissen des Zweiten Weltkriegs kamen mitunter Szenen aus dem Ersten Weltkrieg oder aus der Zwischenkriegszeit, dann Episoden aus dem sowjetischen Lemberg und danach aus den Dreißigerjahren, als Wilhelm in Paris lebte. Diese Comics erinnerten an die Erzählungen des Großvaters und an ihn selbst. Sie waren die Verkörperung von Chaos, Unordnung und aufbrausendem, ungezügeltem Temperament. Außerdem traten die Ereignisse in seinem Leben mit sehr ungleichmäßiger Intensität ein: Zwischen 1914 und 1921 erlebte er dutzende Male mehr und Bedeutenderes als in den darauffolgenden zwanzig Jahren, darauf folgte ein erneutes kurzes Aufflammen intensiven Lebens und danach die Lethargie der Sowjetära.

      Dem Großvater gefielen Halynas Zeichnungen sehr. Wenn er ihre Bilder betrachtete, fielen ihm immer neue Details ein, die sie sofort festhielt – manchmal erriet sie ganz intuitiv, wie das eine oder andere ausgesehen haben könnte. Noch als Kind füllte Halyna mit ihren Comics mehrere dicke Hefte, die sie hütete wie einen Schatz. Von Zeit zu Zeit malte sie Episoden aus Großvaters Erzählungen dazu, die in ihrem Gedächtnis auftauchten. Ebendiese Comics würde sie viele Jahre später nach Wien mitnehmen, um sie einem Auftraggeber als Vorschlag für die Gestaltung des Interieurs einer Bar zu zeigen. Dieser sollte sofort Feuer und Flamme sein und Halyna nur eine Stunde nach ihrem Treffen per E-Mail den Vertrag schicken, mit einem Honorar, das ein Ablehnen unmöglich machte. Und sie lehnte nicht ab.

      Auf der ersten Seite von Halynas Comics prangte die Uhr des Großvaters, eine „Omega Seamaster“. Genau so eine sah Halyna später im Kino am Handgelenk von James Bond. In diesem Film hörte sie auch zum ersten Mal die Phrase „Die Welt ist nicht genug“, die der Großvater seinen Memoiren als Motto vorangestellt hatte, aber nicht, weil er James-Bond-Filme mochte, sondern weil es das Familienmotto der Habsburger gewesen war.

      Einer der ersten Sätze der Autobiografie von Halynas Großvater war: „Ich bin das sechste und letzte Kind in der Familie meiner Eltern, der Liebling meiner Mutter.“ Sie, Maria Theresia Antoinette Immakulata Josepha Ferdinanda Leopoldine Franziska Caroline Isabella Januaria Aloysia Christine Anna Erzherzogin von Österreich und Prinzessin von Toskana, war die Tochter von Erzherzog Karl Salvator von Österreich-Toskana und Maria Immaculata di Borbone von Neapel-Sizilien. Maria Theresia sprach mit ihrem Sohn Italienisch, Englisch beherrschte sie von allen in der Familie am schlechtesten: sicher und richtig, aber irgendwie langsam und verkrampft, man merkte, dass sie ständig nach Worten suchte. Als die Kinder größer wurden, übersetzten sie manchmal sogar einzelne Phrasen ihrer englischen Gouvernante für die Mutter.

      Die Mutter verbrachte viel Zeit mit Wilhelm, sie lehrte ihn, Patiencen zu legen, Domino zu spielen und zu malen. Von allen Kindern war es nur ihm erlaubt, ihr Atelier zu betreten und ihr bei der Arbeit zuzusehen. Maria Theresia hatte die Angewohnheit, den Pinsel zwischen den Zähnen zu halten, während sie nach der passenden Farbe suchte, und sie wischte sich unwillkürlich die mit Farbe beschmierten Hände an ihrem erlesenen schwarzen Kleid ab. Maria Theresia liebte es, Blumen zu malen. Ihre Arbeiten signierte sie mit den Initialen „mTh“, wobei der mittlere Buchstabe die anderen immer überragte. Manchmal nahm sie die Hand des kleinen Willy und führte sie über die Leinwand, er verschmierte die Ölfarbe und bemühte sich innerhalb der sorgfältigen, von der Mutter vorgemalten Umrisse zu bleiben. Das Malen war nie seine Stärke gewesen. Im Atelier der Mutter standen stets zahlreiche Topfblumen, hauptsächlich Hyazinthen – ihr Geruch suchte Wilhelm danach bis an sein Lebensende heim, wenn er Gemälde betrachtete. Er behielt sogar die Angewohnheit bei, sich wie in seiner Kindheit ein Tuch vor die Nase zu halten, denn der Geruch der Hyazinthen verursachte ihm Kopfschmerzen und eine verstopfte Nase.

      Wilhelms Vater Karl Stephan sprach Deutsch mit den Kindern, doch von klein auf verlangte er von ihnen, neben Englisch und Französisch – den traditionellen Fremdsprachen, die alle kaiserlichen Nachfahren beherrschten – auch Polnisch zu lernen.

      Im Jahr 1895 erbte Karl Stephan von Habsburg-Lothringen, Admiral der österreichischen Kriegsmarine, ein Anwesen im polnischen Städtchen Saybusch, das sein Onkel Karl Ludwig fünfzig Jahre zuvor von einem verarmten polnischen Adeligen erworben hatte. Im selben Jahr wurde Karl Stephans jüngster Sohn Wilhelm geboren, und der glückliche Vater begann über das polnische Projekt nachzudenken. Das Projekt war extravagant, wie viele andere von Karl Stephans Ideen. Er gab sich nicht der Illusion hin, dass er selbst oder eines seiner Kinder in Zukunft den österreichischen Thron besteigen würde. Als viel realistischer betrachtete er den Zerfall der Monarchie in viele kleine Nationalstaaten: einen tschechischen, einen ungarischen, einen serbischen und andere – darunter wäre auf jeden Fall auch ein polnischer. Jeder dieser kleinen Staaten bräuchte einen Monarchen. Genau darauf wollte sich Karl Stephan vorbereiten. Als zukünftigen König oder zukünftige Königin eines unabhängigen Polens sah er jemanden aus seiner Familie oder sogar sich selbst.

      Karl Stephan nannte seinen jüngsten Sohn Wilhelm, zu Ehren eines anderen habsburgischen Erzherzogs, der die polnische Krone bereits Ende des 14. Jahrhunderts auf dem für die Habsburger typischen Weg erlangen wollte: durch Heirat, mit der elfjährigen polnischen Prinzessin Jadwiga. Doch die polnischen Adeligen hinderten ihn daran. Sie lauerten ihm auf dem Weg zu seiner Verlobten auf und schlugen ihn in die Flucht, Jadwiga dagegen vermählten sie mit dem litauischen Großfürsten. Dies war der Beginn der Jagiellonen-Dynastie.

      Halyna erinnert sich an die Hände des Arztes, der während ihres Gesprächs einen Zettel zweimal zusammen- und danach wieder auseinanderfaltete. Er legte ihn auf einen Stoß ebensolcher Zettel, die zuerst zusammen- und danach wieder auseinandergefaltet worden waren, danach griff er nach einem neuen Zettel. Darauf schrieb er die Überweisung zur Blutabnahme und erzählte unterdessen, ohne innezuhalten, von neuen Erkrankungen, unkonventionellen Behandlungsmethoden, von Gefahren, die sich in den gewöhnlichsten Lebensmitteln verbargen, und davon, dass man auf alles gefasst sein müsse. Dann setzte er sorgfältig einen Stempel in die untere linke Hälfte des Blattes, genau in die Mitte zwischen Faltlinie und Rand, und konzentrierte sich darauf mehr als auf den Inhalt des Geschriebenen: Die Buchstaben waren unleserlich, verschwammen ineinander und kamen einander in die Quere. Auf einen Extrazettel schrieb der Arzt die Adresse des Labors, das sie aufsuchen, sowie den Namen der Laborassistentin, die sie zuvor kontaktieren sollte. Halyna konnte das Geschriebene kaum entziffern.

      „Entschuldigen Sie bitte, aber werden die Leute im Labor wissen, was zu tun ist?“, fragte sie unsicher.

      „Hören Sie“, empörte sich der Arzt. „Glauben Sie, ich schicke Sie irgendwohin? Das ist das beste Labor der Stadt.“

      „Natürlich“, antwortete Halyna verlegen. „Vielen herzlichen Dank, wir kommen mit dem Befund wieder.“

      Eilig drückte sie dem Arzt Geld in die Hand, dieser gab vor, nichts zu bemerken, dann rückte sie das Häubchen des tief und fest in ihren Armen schlafenden


Скачать книгу