Nächstes Jahr in Berlin. Astrid Seeberger
sie frieren, obgleich es warm war. Sie hatte die Schultern hochgezogen und die Hände in den Taschen ihrer schwarzen Strickjacke vergraben. Der Stoff ihrer dunkelroten Seidenhose flatterte wie ein Segel am Mast. Wir standen wortlos da, so als wäre bereits alles besprochen. Dann sagte sie plötzlich, vielleicht nicht einmal zu mir: »Könnte mich doch jemand umarmen.«
Und ich legte die Arme um sie, doch bekam ich ihren Körper nicht zu fassen. Oder war mein eigener Körper ausgewichen? Ich erinnere mich nicht daran, nur an Mutters Duft. Sie duftete nach Lavendel, wie immer. Im Kühlraum jedoch nicht. Da roch sie nach Tod, Mutters eigenen Worten zufolge der schlimmste Geruch, den es gibt. Der bleibt immer und ewig haften, lässt sich nie abwaschen, hatte sie gesagt.
Ich fragte den Taxifahrer, woher er komme. Aus der Türkei, sagte er, aus einer Stadt in den Bergen, die Van heiße.
Ich fragte, wie Van aussehe.
Er wisse es nicht, sagte er, das, was er gekannt habe, sei durch ein großes Erdbeben zerstört worden. Alles, außer dem See. Der See sei blau und friere nicht zu, nicht einmal im Winter, obwohl es eisig kalt werden konnte, das Wasser sei so salzig, salziger als menschliche Tränen.
Er schwieg. Ich ebenfalls und auch die singende Frau. Nur das Saiteninstrument spielte triumphierend weiter, als hätte es über etwas gesiegt, was auch immer das sein mochte. Mir fiel auf, dass ich meine Knie erneut umschlungen hielt.
Ich bekam ein Hotelzimmer im siebzehnten Stock. Es hätte überall liegen können: dasselbe anonyme Design wie in Chicago oder Shanghai. Man konnte weit blicken, nirgendwo aber gab es einen Fluss. Nur Häuser in Reihen, angetreten wie zur Verteidigung. Und die Autowerke am Rand der Stadt, größer als früher, wie eine hemmungslos wachsende Geschwulst, mit Schornsteinen, die Rauch in den Himmel bliesen. Säße Gott da oben, würden ihm die Augen brennen, hatte Vater einmal gesagt. Vater aber war tot, so wie Mutter. Ich war ein elternloses Kind.
Ich zog mich aus und duschte. Doch schon vorher war mein Gesicht nass.
Dann legte ich mich aufs Bett, nackt, in ein weißes Handtuch gewickelt. Ich sehnte mich nach Lech, ich hätte Ja sagen sollen, als er mich herbegleiten wollte. Hätte ihm die Schornsteine mit ihrem ewigen Rauch zeigen sollen. Und ihm erzählen sollen, dass alle, die hier wohnten, sich ein bisschen schwarz färbten.
Mutter ist in Ostpreußen geboren, auf einem Hof nahe Pieniężno, das damals Mehlsack hieß. Ihre Geburt war für diesen Tag noch nicht geplant, doch ein durchgegangenes Pferd hatte ihre Mutter erschreckt. Das erklärt alles, sagte Mutter immer. Ich habe nie gefragt, was sie damit meinte.
Manchmal sagte Mutter, ich sei ihr Ein und Alles. Und dass Waldstadt, wo wir in meiner Kindheit wohnten, eine Strafe für sie sei. Man sei zwischen steilen Bergen eingeklemmt. Das sei nicht wie in Ostpreußen, wo man sich frei und leicht bewegte. Dort gab es eine sanft gewellte Landschaft, die Gott mit streichelnder Hand geformt hatte, darüber einen weiten Himmel an einem schimmernden Meer. Anschließend hatte er alles mit goldenem Licht übergossen. Vielleicht war das Pferd vom goldenen Licht geblendet worden. Weshalb sonst sollte man in einem gelobten Land durchgehen, das Ostpreußen nach Mutters Worten war.
Ich bin nie in Ostpreußen gewesen. Doch als ich einen Kongress in Warschau besuchte, stieß ich auf ein Foto von Mehlsack. Ich war in ein Antiquariat gegangen. Als ob Bücher erreichen könnten, dass man sich in einer fremden Stadt weniger fremd fühlt, auch wenn man die Sprache nicht versteht.
Der Inhaber, ein hagerer alter Mann, der sich ruckartig bewegte, so als müsste er sich jedes Mal einen Stoß geben, zeigte mir ein Buch mit diesem Bild. Jemand, der Adam Górnik hieß, hatte das Foto 1983 aufgenommen. Man sah die Reste des alten Stadtkerns von Mehlsack: Hausfundamente, die hartnäckig zurückgeblieben waren in der Wüstenei um die katholische Kirche, das einzige Gebäude der alten Stadt, das den Zweiten Weltkrieg überdauert hatte. Man könne auf den Gedanken kommen, sagte der Antiquar, der ein altertümliches Deutsch sprach, dass die Flammen, die die Wohnungen der Menschen zerstört hatten, vor dem Gotteshaus im letzten Augenblick innegehalten hatten.
Ich schaute das Bild mit der Kirche lange an. Mutter musste dort das Vaterunser gebetet haben: »Erlöse uns von dem Übel.« Als Kind ging sie jeden Sonntag in die Kirche. Vielleicht war ihr Gebet zu schwach gewesen. Oder das Übel war zu stark. Das sagte ich auch zu dem Mann. Als ich das Buch dann kaufen wollte, reichte er es mir und weigerte sich hartnäckig, Geld dafür anzunehmen.
Mutter und ich hatten davon gesprochen, nach Ostpreußen zu reisen. Daraus war nichts geworden. Ich hatte es nie ernsthaft in Betracht gezogen. Als hätten wir noch unendlich viel Zeit. Obwohl ich sah, wie Mutter magerer wurde. Und obwohl sie sagte, wenn sie im selben Tempo weiter an Gewicht verlöre, wäre sie in zehn Jahren verschwunden. Ich weiß noch genau, wann sie das sagte. Es war, bevor wir zur S-Bahn gingen, beim letzten Mal. Sie sagte es, als sie ihre schwarze Strickjacke anzog. Ich erinnere mich an jedes einzelne ihrer Worte. Und dass ich nur einen Gedanken hatte, ich wollte weg.
Langsam senkte sich die Dämmerung herab. Der Rauch der Autowerke wurde schwärzer. Lampen wurden in der Stadt angeschaltet, schnurgerade Lichterketten entlang der Straßen, als könnten sie die Menschen von Irrwegen abhalten.
Ich erinnerte mich an den Pastor, mit dem ich ins Gespräch gekommen war, als ich am Tag vor Mutters Tod Visite auf der Station machte, für die ich zuständig war. Er litt unter einer schweren Gefäßentzündung, die seine Nieren geschädigt hatte. Er lag in seinem Bett, bleich und abgemagert, um den Kopf einen Kranz weißer, dünner Haare. Als ich ihn fragte, wie es ihm gehe, sagte er, es sei wichtig, die Kategorie des Jubels lebendig zu halten. Er sagte es mit äußerst schwacher Stimme, ich musste ihn bitten, das Gesagte zu wiederholen.
Mutter jubelte selten. Vater indes häufig, besonders, wenn er Waldhorn spielte. Alois sagte, Vater sei einer der großen Lobpreiser gewesen. Als wir in Waldstadt wohnten, pries Vater alles, vor allem Mutter und mich. Und die Blumen. Es gab niemanden in Waldstadt, der die Blumen so liebte wie er. Sie seien ein Wunder, sagte er, jede einzelne von ihnen. Und Vater kniete in den Wiesen und betrachtete sie eingehend. Wenn das Gras hoch stand, sah man nur seinen Buckel. Solange es die Wiesen gab, hinderte er ihn nicht am Jubeln.
In Stuttgart war es um das Jubeln schwieriger bestellt. Vielleicht war der Rauch daran schuld, er überzog alles mit Ruß. Oder die Wiesen fehlten. Es gab nur Rasen, mit Klopfstangen für Teppiche. Für Vater war Waldstadt der Ort des Lobpreisens, Stuttgart wurde das nie. Obwohl er es nach oben geschafft hatte, wie Mutter sagte, Abteilungsleiter geworden war, in der Stuttgarter Filiale des Pfäffle Verpackungswerks. Und wir nun die Mittel hatten, uns Teppiche zu kaufen, große Perser mit verschlungenen Blumenranken. Auf ihnen aber kniete Vater nie. Nicht einmal, wenn Mutter sie ausgeklopft hatte und die Blumen klar und prächtig leuchteten.
Vielleicht lag es daran, dass Vater geschrumpft war. Es hatte bereits in Waldstadt angefangen. Er bekam eine seltsame Krankheit, die Syringomyelie, bei der sich Zysten im Rückenmark bilden, was zur Krümmung des Rückgrats führt. Vater bekam einen Buckel, der von Jahr zu Jahr größer wurde. Doch niemand redete darüber, obgleich sein Buckel schließlich alle Buckel an Größe übertraf.
Erst als ich Medizin studierte, lernte ich den Namen der Krankheit kennen. Und begriff plötzlich: Die Syringomyelie war es, die das Temperaturempfinden von Vaters Händen ruiniert hatte. Vater spürte nicht, ob etwas warm oder kalt war.
Es gibt Erinnerungen, die sitzen wie Nägel im Körper fest: Rauch bleibt im Ofenrohr zwischen Kohlenherd und Schornstein hängen und quillt in die Küche. Und Mutter schimpft, als wäre Vater daran schuld. Und Vater steht auf und macht sich mit bloßen Händen ans Abschrauben des Ofenrohrs, des glühend heißen Ofenrohrs. Ich habe den Geruch nach verbranntem Menschenfleisch wahrgenommen. Ich habe gesehen, wie es aussieht. Habe gehört …
Vater schrie nicht. Er wurde bleich. Und taumelte zum nächsten Stuhl, auf den er sich mit einem Rumsen fallen ließ. Dann