Nächstes Jahr in Berlin. Astrid Seeberger

Nächstes Jahr in Berlin - Astrid Seeberger


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und nach hinten überkippt, hinein in einen Raum, der nicht länger existiert, nur noch ein Meer ist aus lodernden Flammen. Und das Letzte, was man sieht, ein nackter Fuß im Fenster ist, ein weiß leuchtender, zuckender Fuß.

      Ich erinnere mich, dass die Menschen um mich herum weinten. Und dass ich weggerannt bin zu meinem Wald. Doch auch dort gab es Füße, weiße Füße, die zuckten, einfach überall.

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      Ich unterschrieb den Einäscherungsauftrag. Der Namenszug wirkte seltsam, als hätte ich am ganzen Leib gezittert. Dann fragte ich Frau Häberle, ob die Toten bei der Einäscherung Strümpfe trugen. Mutter musste die besten haben, die es gab. So etwas ist eher ungewöhnlich, sagte Frau Häberle mit ihrem Leben-endet-Liebe-nie-Gesicht, das sich durch nichts aus der Fassung bringen ließ. Mutter muss jedenfalls Strümpfe tragen, sagte ich, und dass ich sie kaufen und dort abgeben würde.

      Dann ging ich, ausgestattet mit Kopien des Einäscherungsauftrages und meiner Bestellungen. Vor dem Haus gab es einen kleinen Teich, in dem zwei Goldfische schwammen, beharrlich immer im Kreis, als gäbe es einen Ausweg.

      Als ich wieder im Hotelzimmer war, rief ich Lech an. Ich sagte, ich wolle mit ihm nach Dresden fahren. Er fragte nicht, warum, nur wann. Nach Mutters Beerdigung, sagte ich. Und fügte hinzu: »Für dich würde ich durchs Feuer gehen.« Ich sagte es ohne jedes Zögern.

       Auf der Insel, den 1. Januar 2013

      Silvester verlebten wir in aller Stille. Wir waren daheim auf der Insel, nur Lech und ich. Es war dunkel, die Dunkelheit hielt alles umschlungen. Wir standen am Fenster, als das neue Jahr anbrach. Das Eis leuchtete weiß. Trotz des Tauwetters türmte sich der Schnee noch immer hoch. Es sah aus, als würde der Himmel im Süden eine Spur heller werden. Vielleicht lag es an den Raketen über Nyköping.

      Ich schaute Lech an. Sein Gesicht war vollkommen nackt, ohne jeden Schutz. Er legte seinen Arm um mich. Eine Zeit lang atmeten wir Mund an Mund.

      Dann hörten wir uns Musik an, Isabelle Faust und Alexander Melnikov, die Beethovens Sonaten für Klavier und Violine spielten. Die Geige klang einzigartig, besser noch als das Klavier. Sie hat einen Namen, sagte Lech: Dornröschen.

      Dornröschen, eins von Stradivaris Glanzstücken, war fast hundertfünfzig Jahre verschollen gewesen. Als sie wiedergefunden wurde, hatte die Landesbank Baden-Württemberg sie gekauft. Und dort lag sie dann im Tresor, man konnte sie ausleihen, das aber war ungemein teuer.

      Als sich Isabelle Faust in Stuttgart aufhielt, konnte sie nicht anders, als Dornröschen auszuprobieren. Das Instrument war verschlossen und stumm, bloß ein Stück Holz ohne Leben. Es weigerte sich zu klingen, nachdem es so viele Jahre unberührt dagelegen hatte. Isabelle Faust aber gab nicht auf. Der Bogen streichelte und strich. Und dann plötzlich … Ein paar Töne lugten hervor, mitten aus all der Verschlossenheit … Wie wenn man vor einem alten Altarbild steht, das die Kerzen der Betenden mit Ruß bedeckt haben, und hier und da und nur bei einem gewissen Licht die ursprünglichen Farben aufleuchten sieht. Die Geigerin hatte eine Stimme vernommen. Eine Stimme, die sie wiedererkannte, als wäre es ihre eigene. Ein halbes Jahr später hatte sie einen Sponsor gefunden. Hatte Dornröschen geholt und ihr Leben mit ihr begonnen.

      Es dauert lange, bevor eine Geige, die fast hundertfünfzig Jahre einsam war, bereit ist, sich auf jemanden einzulassen. In Dornröschens Fall sechs Jahre, in denen der Bogen immer aufs Neue über die Saiten strich, bevor Töne erklangen, von Mal zu Mal wärmer und strahlender. Bis sich die Geige gänzlich geöffnet hatte. Und mit einer Leuchtkraft sang, die ohnegleichen war. Wie beim Liebesspiel, sagte Lech.

       Stuttgart, den 26. November 2007

      Nachdem ich mit Lech über Dresden geredet hatte, saß ich auf der Bettkante. Regen setzte ein, ein heftiger Platzregen. Man konnte den Eindruck bekommen, die Stadt versinke. Tief unten waren nur dunkle Nebel zu erahnen, ein paar glänzende Lichter darin als letzte Zeichen von Leben. Als wäre ein Damm gebrochen und die Stadt vom Wasser geschluckt worden.

      Ich schaltete die Nachttischlampe ein. Mutters Handtasche stand auf dem Boden. Ich hatte nur die Schlüssel herausgenommen, als ich in ihre Wohnung fahren wollte. War nicht fähig gewesen, sie durchzugehen, als wäre sie ein Teil von Mutters Körper. Ich nahm sie hoch und fuhr mit der Hand über das braune Leder. Es war weich, Mutter hatte gesagt, sie sei aus Kalbsleder.

      In der Tasche lagen ein schwarzes Portemonnaie, ein roter Knirps, eine halb leere Packung Papiertaschentücher und ein dunkelroter Taschenkamm, auf dem in goldenen Buchstaben Hercules Sägemann stand.

      Im Portemonnaie steckten siebzig Euro in Scheinen und ein paar kleinere Münzen sowie die Quittung einer chemischen Reinigung. Und Mutters Personalausweis mit einem Foto, auf dem sie tapfer den Mund verzog, als ließe sich ihr Flüchtlingsgesicht durch ein Lächeln verändern. Und ein Foto von Vater in einer Plastikhülle, in der auch sein Schwerbehindertenausweis steckte, sein Gesicht darauf war seltsam verschwommen. Und daneben ein weiteres Foto, vergilbt mit gezackten weißen Rändern, auf dem Mutter als Halbwüchsige stand, zwischen ihren älteren Brüdern Ewald und Bruno. Doch gab es kein Bild von mir.

      Leichte Übelkeit überkam mich. Mir fiel ein, dass ich den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Ich schloss die Tasche und stand auf. Es war Zeit, sich umzuziehen. Das schwarze Kleid, das ich im Bestattungsinstitut getragen hatte, konnte mir gestohlen bleiben. Ich entschied mich für das grüne Seidenkleid, das ich in München gekauft hatte, als die wirbelnden Herbstblätter den Ort in eine raschelnde Stadt verwandelt hatten. Als Lech und ich mitten durch das Gewirbel geschlendert waren. Dieses Kleid hatte ich eingepackt, als könnten Kleider Kraft spenden.

      Ich ging ins Bad und schminkte mich. Dann verließ ich das Zimmer, die Schatten des Gesichts unterm Make-up verborgen, hoch aufgerichtet, mit leuchtend rotem Mund und trommelnden Stöckelschuhen.

      Im Restaurant saßen nur wenige Gäste. Ein Paar mittleren Alters, das schweigend, als wäre zwischen ihnen bereits alles gesagt, seine Mahlzeit einnahm, und hier und da ein Geschäftsreisender. Ich setzte mich an einen Tisch weit weg, neben eine dunkle Wand, an der Wasser hinabrann wie in meiner Kindheit an den Schaufenstern der Fischläden.

      Auf dem Tisch stand eine Vase mit einer weißen Rose. Ich hätte eine Nelke oder Tulpe vorgezogen. Ein Kellner tauchte auf, ein junger, schmächtiger Mann, der mich willkommen hieß, als hätte er auf mich gewartet. Er beugte sich über den Tisch und zündete voller Andacht eine Kerze an, die neben der Vase mit der Rose stand. Ich sagte: »Genauso zündet man in der Kirche eine Kerze für die Toten an.«

      Er erstarrte, das brennende Streichholz in der Hand. Dann sagte er, nachdem er die Flamme im letzten Moment gelöscht hatte: »Der Regen kann einen ganz melancholisch machen, nicht wahr, Madame? Man kann etwas Trost brauchen. Warum nicht durch ein gutes Essen?« Und er legte mir die Speisekarte wie eine Art Rettungsring hin. Dann verschwand er ebenso geräuschlos, wie er gekommen war.

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      Zu ihrem achtzigsten Geburtstag hatte Mutter ein Geschenk von mir bekommen, eine wunderschöne Ausgabe von Gertrude Steins Buch Die Welt ist rund über ein Mädchen, das denselben Namen trug wie Mutter: Rose.

      Im Buch steigt Rose auf einen Berg. Und gelangt auf dem Weg zu einem Baum, in dessen Rinde sie ihren Namen ritzt: Rose ist eine Rose ist eine Rose … Denn so gibt es nichts mehr, nirgendwo, das ihr in der Nacht Angst machen kann. Und als Rose mit dem Einritzen fertig ist, singt sie. Denn sie hat etwas auf dem Baum nebenan bemerkt. Jemand hat ihren Namen dort eingeritzt. Und dazu einen weiteren Namen, Willie, der ihr Mann werden wird. Und einen dritten Namen, Billie. Billie war der Löwe im Buch, der Löwe, der verschwand.

      Als ich am Morgen nach Mutters Geburtstag aufwachte, hörte ich Scheppern und Klirren. Mutter rumorte in der Küche. Schubladen wurden krachend zugeschoben. Teller klapperten. Etwas fiel polternd zu Boden. Ich unterließ es, darüber nachzudenken, ob sie den Lärm ihret- oder


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