Nächstes Jahr in Berlin. Astrid Seeberger

Nächstes Jahr in Berlin - Astrid Seeberger


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im Ton hielt er inne. Dann begann er von Neuem, noch sanfter, noch zärtlicher. Doch es ging nicht. Der Ton prallte gegen die Betonwände und verschloss sich hart und kantig. Vater aber gab nicht auf, versuchte es von Neuem. Hatte Orpheus mit seinem Spiel nicht sogar Steine zum Leben erweckt? Die Betonwände aber waren schlimmer, sie bestanden darauf, aus Beton zu sein, nicht wie die Waldstädter Fachwerkwände, die zu Resonanzböden wurden. Und die Nachbarn, von denen wir kaum wussten, wer sie waren, hämmerten gegen die Wand, hart und böse. Vater saß mitten im wütenden Gehämmer und drückte das Waldhorn an die Brust, ratlos und konfus.

      Noch ein paarmal versuchte er es mit dem Spielen. Dann verkaufte er das Waldhorn. In der Stuttgarter Zeitung gab er eine Annonce auf. Neun Antworten trafen ein, sieben Leute wollten vorbeikommen, um Probe zu spielen. Der Sechste bekam das Waldhorn, ein Student von der Stuttgarter Musikhochschule. Er hatte beim Spielen den richtigen Glanz in den Augen, sagte Vater. Als der Student fragte, ob er das Waldhorn abbezahlen könne – er habe nicht viel Geld, wolle das Instrument aber unbedingt haben –, da senkte Vater die Summe auf einen Spottpreis, auf lediglich zehn Mark. Mutter sollte ruhig toben. Ein Waldhorn ist wie ein Mensch, sagte er, es braucht Liebe.

      Und wenn Rechnungen kommen, braucht man Geld, schrie Mutter. Das stimmt, sagte Vater, genauso wie das, was er gesagt habe, stimme, doch gebe es eine Hierarchie der Wahrheiten.

      Ich ging weiter den Hügel hinauf, wo ein großer alter Garten noch immer mitten zwischen all den neuen Häusern lag. Ich sah den bejahrten Geräteschuppen, frisch gestrichen in Grün und Blau, das hier und da ineinander überging. Der Schuppen stand auf der mittleren Terrasse, zwischen knorrigen Apfelbäumen, die den Krieg überdauert hatten. Die Bomben waren auf die Häuser gefallen, nicht auf den Garten, auch nicht auf die Autowerke. Als die Bombenangriffe drohten, hatte man eine Nebelanlage gebaut. Der Nebel war nach draußen gequollen und hatte die Fabrik verborgen, vielleicht auch den Garten.

      Solange er noch laufen konnte, waren Vater und ich immer hierhergegangen, um die Apfelblüte zu sehen. Das letzte Mal war es ein Blühen ohne jedes Maß gewesen, und die Wanderung auf dem Pfad hatte viele Pausen erfordert. Vaters Rücken war so krumm geworden, dass einer seiner Lungenflügel zusammengequetscht wurde. Jede Bewegung ließ Vater keuchen.

      Damals stand er neben mir und betrachtete all das Blühen. Das hier gibt es Jahr für Jahr wieder. Er sagte nicht: trotz allem. Nur, dass es das gibt. Als bestünde die Gefahr, dass wir es vergessen.

      Dann erzählte er von einem Apfelbaum, den er im Krieg gesehen hatte. Es war im Vorfrühling gewesen, sagte er. Er hatte einen verwüsteten Park durchquert. Zwischen verkohlten Baumresten lag ein Teich. Der Teich war nicht tief, nicht tief genug, um die Menschen, die sich dort zu retten versucht hatten, zu verbergen. Von den Bomben hatten sie Phosphor abbekommen, Phosphor, der so lange brannte, wie es Sauerstoff in der Luft um sie herum gab. Es war nicht leicht gewesen, den Teich anzusehen. Man musste etwas anderes anschauen. Vielleicht einen Baum, der ein Stück weiter weg neben den Resten einer Mauer stand.

      Auch der war verkohlt. Hatte nur noch ein paar seiner untersten Äste. Und am äußersten Ende des einen saßen wenige zarte Blüten. Die Wärme nach dem Feuersturm hatte das bisschen Leben verleitet, das noch in dem Baum steckte. Die Kälte würde die Blüten vernichten, sobald die Stadt abgekühlt war. Es würde niemals Früchte geben. Die Blüten aber waren da, unfassbar weiß mit einer schwachen Rötung am Rand, mitten in all dem Ruß. Er hatte sie gesehen, ohne zu wissen, ob er es aufwühlend oder tröstlich finden sollte. Als er den Menschen, die er später traf, von den Apfelblüten erzählte, waren sie nicht beeindruckt gewesen. Sie hatten genug damit zu tun, sich selbst am Leben zu erhalten.

      Ich erreichte die Kuppe des Hügels, wo sich Beton-Wohnblocks in geraden Reihen neben einem Wasserturm aus ebenso grauem Beton erhoben. An der Bushaltestelle vor dem Turm warteten zwei alte Frauen. Hier hatte Mutter gestanden mit ihrem großen Hut, an dem eine kleine Feder wie ein Seismograf gezittert hatte.

      Ich überquerte den Platz. Vor der Obst- und Gemüsehandlung fegte ein junger Mann mit schwarz glänzendem Haar den Bürgersteig. Aus der Bäckerei wehte der Duft frisch gebackenen Brotes herüber, und von der Tür des Tabakladens, in dem Mutter ihre Kreuzworträtselhefte gekauft hatte, ertönte ein Bimmeln. Eine Frau mit mohrrübenfarbenem Haar kam herausgerannt und riss sich eine Zigarette aus der soeben gekauften Packung. Es waren hundertneunundsiebzig bis hundertsechsundachtzig Schritte vom Tabakladen zu Mutters Wohnung. Mutter hatte sie gezählt. Ich ertappte mich dabei, es ebenfalls zu tun.

       Auf der Insel, den 2. Februar 2013

      Ich war zum Einkaufen in Flen gewesen. Lech besuchte seinen Sohn in Paris. Als ich aus dem Auto stieg, blieb ich stehen. Vom See erklangen Töne, Töne, die an das Geräusch von Herzklappen erinnerten, wie man sie bei einer Ultraschalluntersuchung vernimmt. Es war dunkel geworden. Wenige Sterne zeigten sich in den Wolkenlücken. Die strenge Kälte hatte ihren Griff gelockert. Noch immer aber war der See mit dickem Eis bedeckt.

      Mir kam ein Gedicht von Lars Gustafsson in den Sinn. An Seen könne man, wenn das Eis aufbricht, »den dunklen, rätselhaften Klang von tief im Wasser versunkenen Kirchenglocken« hören. Obgleich das hier keine Kirchenglocken waren; es war etwas anderes, als ob der See ein Herz hätte, das schlägt.

      Die Töne waren die ganze Nacht zu hören. Man wurde leicht dünnhäutig davon. Es nützte nichts zu wissen, dass Eis bei starkem Temperaturwechsel reißen kann, dass Risse, die das Eis durchziehen, winzig kleine Risse, das Eis zum Vibrieren bringen, wodurch Töne entstehen. Mal um Mal wachte ich auf, und es fiel mir schwer, wieder einzuschlafen. Wie gut wäre es gewesen, wenn Lech hier gewesen wäre.

      Als es hell wurde, war das Herz des Sees verstummt. Ich stand auf und trat ans Fenster. Das Eis leuchtete weiß.

      Auf der Fensterbank lag das Handy mit einer SMS von Lech. Er war in der Nationalbibliothek gewesen, schrieb er, und hatte die hundert Pinienbäume gesehen, die vom Forêt de Bord dort hingebracht worden waren. Sie sollten zwischen den Sälen voller Bücher einen Wald bilden, doch erinnerten sie sich nicht mehr daran, was ein Wald war. Und die vielen Menschen, die über die Bücher gebeugt dagesessen und nach Antworten gesucht hätten. Wie gut wäre es gewesen, wenn ich da gewesen wäre.

      Nach dem Frühstück unternahm ich einen Spaziergang zu dem Hügel, auf dem im Mittelalter ein Dorf gelegen hatte, mit weiter Aussicht über den See. Ich stand zwischen den Mauerresten, die aus dem Schnee ragten. Was hatten die Dorfbewohner getan, wenn sie das Herz des Sees hörten? Nichts war mehr übrig von ihren Gedanken, ihren Gefühlen, ihren Träumen, ihren Ängsten. Nur ein paar Mauerreste im Schnee.

      Ich ging weiter. Der verharschte Schnee auf den Feldern trug. Als ich zu der eichenbestandenen Landzunge kam, begegnete mir ein Mann mittleren Alters mit einem Gewehr. Wir blieben stehen und wechselten ein paar Worte über die Töne des Sees. Er hatte sich einen Whisky genehmigen müssen und den Fernseher lauter gestellt. Dann sprachen wir über die Jagd. Die Damhirsche brächten nichts, sagte er, sie seien ausgehungert, schafften es kaum zu fliehen. Das sei keine Jagd, nur reines Gemetzel. Dann ging jeder von uns in seine Richtung weiter. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihm viel Glück gewünscht habe.

       Stuttgart, den 28. November 2007

      Das, was erledigt werden musste, hatte ich erledigt. Jetzt wollte ich nach Hause fliegen, saß aber auf dem Flughafen fest. Es war, als wollte Stuttgart mich nicht freigeben. Man hatte einen Fehler an der Maschine entdeckt, den man nicht beheben konnte, und bemühte sich nun, einen Ersatz zu beschaffen, das aber konnte dauern. Als die Mitteilung über den Lautsprecher kam, war ich der Panik nahe.

      Stattdessen versuchte ich zu lesen, die erste Seite in Kafkas gesammelten Erzählungen. »Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glattgemähte Weide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.«

      Und eine Erinnerung stellte sich ein. Lech und ich


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