Nächstes Jahr in Berlin. Astrid Seeberger

Nächstes Jahr in Berlin - Astrid Seeberger


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wuchs mit Mutters Sehnen auf. Vielleicht war dieses Sehnen der Grund, weshalb Vater ein Radio gekauft hatte, einen schwarzen Apparat von Grundig. Beständig saß ich auf einem Hocker davor und lauschte. Durch die Glasscheibe vorn, auf der Zahlen und merkwürdige Namen standen – Paris, London, Beromünster –, wurde man eine Welt gewahr, getaucht ins gelbrote Licht der glimmenden Röhren. Und Menschen, die unsichtbar blieben, während sie in allen Sprachen der Welt redeten, sangen und Musik machten, einmal sogar Waldhorn spielten.

      Und einen gab es dort Tag für Tag, pflichtgetreu, einen Mann, der endlose Namenslisten vorlas, es ging um Menschen, die im Krieg verloren gegangen waren. Wenn man ihn vernahm, konnte man meinen, im Land des Vermissens zu wohnen. Wenn Mutter zuhörte, strickte sie Pullover und Strümpfe, als könnte Stricken gegen das Sehnen helfen. Sie vermisste so viele, ihren Vater, der einem König geglichen hatte, und ihre Mutter, deren Haar den Himmel gespiegelt hatte, und ihre Geschwister, hauptsächlich Bruno und Ewald, und ein bisschen auch Luzie, am allerwenigsten noch die jüngsten Brüder Hubert und Alfred.

      Manchmal nannte der Namensvorleser ein besonderes Kennzeichen, das ein Verschwundener gehabt hatte, zum Beispiel eine glänzende runde Narbe außen am linken Handgelenk. Es war ein Mädchen in meinem Alter, das diese Narbe gehabt hatte, eine ebensolche Narbe, wie ich sie hatte. Ich erinnere mich, dass ich Mutter angesehen habe, sie mich aber nicht. Sie strickte nur immer hektisch weiter, auf das Strickzeug starrend, während die Nadeln klapperten. Seitdem klingt das Wort Sehnen für mich nach Klappern.

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      Ich war mit dem Essen fertig. Auf dem Teller lag noch das Fischskelett. Ich musste an ein Buch denken, das Lech in einem Berliner Antiquariat gefunden hatte, mit Bildern von Tiefseefischen. Er hatte mir einen Blindfisch gezeigt, der mit seinen Flossen unablässig den Meeresboden berührt, um nicht verloren zu gehen. Und einen Laternenfisch, der in der ewigen Finsternis aufzuleuchten vermag und so seinen Weg findet. Sie vermissen das Licht nicht, hatte Lech gesagt, man vermisst nur Dinge, von denen man weiß, dass es sie gibt.

      Der Kellner kam und fragte, ob er zu einem Dessert verführen könne, während er den Teller fortzauberte. Ich erwiderte, ich sei satt, und bat um die Rechnung. Er hörte, leicht vorgebeugt, zu, als wollte er kein Wort verpassen, und reagierte mit einer leichten Verbeugung: »Wie Sie wünschen, Madame!«

      Ich hatte Lust zu schreien, dass ich alles in dieser Stadt satthätte. Die Stadt, die Vater verschlungen hatte. Die versucht hatte, mich zu verschlingen. Wer Mutter verschlungen hatte, war ich mir nicht sicher, nicht, nachdem ich sie im Kühlraum gesehen hatte.

      Als ich wieder im Hotelzimmer war, rief ich Lech an. Ich sagte, es fühle sich an, als läge Stockholm auf einem anderen Planeten. Er erwiderte, er würde seine Arme ausstrecken, und die reichten bis zu mir hinunter. Ja, erwiderte ich. Als wir das Gespräch beendet hatten, blieb ich auf der Bettkante sitzen. Es gibt Augenblicke, in denen weiß man weder aus noch ein.

       Auf der Insel, den 13. Januar 2013

      Die Kälte ist zurückgekehrt. Und es hat erneut geschneit. Taubengraue Wolken hängen am Himmel. Vor einer Weile ist Jan gegangen. Er wohnt auf dem Festland, in einem großen ockerfarbenen Haus. Vor fünf Jahren hatte man ihm eine Lunge entfernt. Der Krebs hatte seine Klauen in ihn geschlagen. Nachdem so viele Jahre vergangen waren, glaubte er, dem Krebs entronnen zu sein. Der aber hatte wieder zugeschlagen. Vorgestern musste er sich von Neuem einer Chemotherapie unterziehen.

      Als er heimgekommen war, so erzählte er, hatte er sich, ohne sein Gewehr, zu einem Hochsitz aufgemacht, der etwa einen Kilometer von seinem Haus entfernt steht. Er war hinaufgestiegen und hatte dort in der Dämmerung gesessen. Die Felder leuchteten weiß in der zunehmenden Dunkelheit. Ein Rudel Damhirsche zog langsam vorbei, ein Tier nach dem anderen wie bei einer Prozession. Er hatte ihre dünnen, abgemagerten Körper ganz aus der Nähe gesehen. Als sie im Wald verschwunden waren, hatte er noch immer nicht gehen können. Erst als es schon Nacht war, stieg er hinunter, vollkommen durchgefroren, doch das spielte keine Rolle.

      Als Jan gegangen war, setzte ich mich an den Schreibtisch. Ich kann nicht anders. Hat man erst einmal erlebt, wie es ist, wenn man beim Schreiben etwas zu fassen bekommt, das einem lebenswichtig erscheint, muss man es immer wieder erleben. Es ist wie eine Offenbarung.

      Und ich musste an die Gans denken, von der Sebald in seinem Roman Austerlitz schrieb. Als Austerlitz zusammen mit der Frau, mit der er hätte glücklich werden können, wäre er nicht verloren gewesen, einen Zirkus besucht und von dem künstlichen Firmament ergriffen ist, das sich in der Dunkelheit über ihm offenbart. Dann sieht er die Zirkusartisten hereinkommen, den »Zauberkünstler und seine sehr schöne Frau und ihre drei schwarzgelockten, nicht weniger schönen Kinder, das letzte von ihnen mit einer Laterne und in Begleitung einer schneeweißen Gans«. Und er fühlt etwas, von dem er nicht weiß, ob es Schmerz oder Glück ist, als die Artisten eine seltsame Musik erklingen lassen, Melodien, die er seit Langem vergessen hat. Es war, sagt Austerlitz später, als ob das Geheimnis aufgehoben gewesen sei in dem Bild der Gans, die, während sie spielten, vollkommen reglos dastand. »Mit etwas vorgerecktem Hals und gesenkten Lidern horchte sie in den von dem gemalten Himmelszelt überspannten Raum hinein, bis die letzten Töne verschwebt waren, als kennte sie ihr eigenes Los und auch das derjenigen, in deren Gesellschaft sie sich befand.«

      Einmal war Vater mit einem Sack heimgekommen, in dem eine lebendige Gans steckte. Er hatte sein Waldhorn auf einer Bauernhochzeit ertönen lassen und zur Bezahlung die Gans erhalten. Mutter sagte, er solle sie schlachten. Er ging mit dem Sack und der Axt zum Hackklotz, der sich in einer Ecke des Hofes befand. Als er zurückkam, glänzte die Axt genauso sauber wie zuvor, und der Sack bewegte sich. Also trabte Mutter los, wild entschlossen. Als sie vom Hof hereinkam, baumelte der Gänsekörper von ihrer Hand.

      Ich erinnere mich, dass ich dabei war, als sie die Innereien entfernte. Ich hielt das Gänseherz, das noch immer warm war, in der Hand.

       Stuttgart, den 26. November 2007

      Ich legte mich aufs Hotelbett. Der Regen trommelte immer weiter gegen die Scheibe. Ein Heulen ertönte, wie von einem im Ozeannebel umherirrenden Schiff. Die Nachtschicht in den Autowerken begann. Mutter verabscheute dieses Geräusch. Es ließ sie an das singende Meer denken. Sie sagte, das Meer in Ostpreußen sang, wenn Dunkelheit und Kälte nahten, jedoch nur in der Nacht, bevor es zu Eis gefror, es war ein eintönig summender Laut. Man war wie von Sinnen, wenn man ihn hörte.

      Mutter war oft wie von Sinnen. Vielleicht war sie dann am ehesten sie selbst. Oder war sie es dann, wenn sie losrannte? Ich erinnere mich, wie sie gerannt war, eines Abends in Waldstadt, als sie und ich im Garten, den wir außerhalb der Stadt gemietet hatten, Unkraut jäteten. Vater saß auf der Bank und spielte Waldhorn, Melodien, die zu dem goldenen Licht passten, das alles überflutete. Plötzlich hatte sich Mutter aufgerichtet und war mit ihren erdigen Händen und mit Schweißtropfen auf der Stirn losgerannt. War aus dem Garten gerannt, über die Wiese hinweg, weg von uns. Der Bärenklau bog sich zur Seite, sie breitete die Arme aus und flog. Als sie den Fluss erreichte, blieb sie stehen und verharrte dort eine Weile.

      Vater hatte aufgehört zu spielen. Er schaute nur noch Mutter an, mit Augen, die ich nie zuvor an ihm gesehen hatte. Warum sah Vater aus wie der Mann in der Jalousie, als dieser die Stiefel auf der Vortreppe betrachtete, die er mit Wasserfarben gemalt hatte?

      Als Mutter zurückkam, war sie wie immer. Wir müssten uns ranhalten, sagte sie, es gebe noch jede Menge Unkraut zu rupfen. Vater saß auf der Bank mit dem Waldhorn im Schoß. Erst geraume Zeit später begann er erneut zu spielen, während sein Instrument im goldenen Licht aufleuchtete.

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      Ich sollte mich erheben und all das in Angriff nehmen, was getan werden muss, wenn ein Mensch gestorben ist. Die Verträge und Abonnements kündigen, Mutters Wohnung, in der es immer einen Platz für mich gegeben hatte, leer räumen. Ich bin jetzt frei, dachte ich, frei von Mutter, frei von der Stadt, frei von allem, was versucht


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