Nächstes Jahr in Berlin. Astrid Seeberger

Nächstes Jahr in Berlin - Astrid Seeberger


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mitgebracht hatte, Kafkas Erzählungen. Und las die letzte Geschichte, die Kafka geschrieben hat: Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse. Sie war entstanden, als er das erste Mal mit einer Frau zusammenlebte, mit Dora Diamant, gerade, als der Tod ihn in die Fänge bekommen hatte.

      Ich las von Josefines Singen, besser gesagt von ihrem Pfeifen, mit dem sie das Mäusevolk zum Träumen brachte: »Etwas von der armen, kurzen Kindheit ist darin, etwas von verlorenem, nie wieder aufzufindendem Glück, aber auch etwas vom tätigen, heutigen Leben ist darin, von seiner kleinen, unbegreiflichen und dennoch bestehenden und nicht zu ertötenden Munterkeit.« Während Mutter weiter klapperte und rumorte.

      Als ich die Erzählung zu Ende gelesen hatte, stand ich auf. Mutter war damit beschäftigt, mit der Brotmaschine ein paar Scheiben zum Frühstück abzuschneiden. Sie hielt mit einer Hand das Brot fest und drehte die Kurbel mit der anderen. Noch immer hatte sie ihr Nachthemd an, ein weißes, knöchellanges Baumwollhemd mit blauen Blümchen. Sie drehte die Kurbel wie wild, und ihre Unterlippe zitterte. Die Haut an ihren Oberarmen hing herunter, wie sie es tut, wenn Leute abmagern, ja flatterte geradezu. Ich fand, dass Mutter noch nie so hilflos ausgesehen hatte.

      Ich sagte Guten Morgen, etwas anderes fiel mir nicht ein. Sie habe die ganze Nacht nicht geschlafen, sagte Mutter. Sie habe das Buch gelesen, das ich ihr gegeben habe. Es sei schrecklich gewesen. Und sie drehte die Kurbel immer weiter, als müsste sie irgendetwas wegkurbeln.

      Schließlich setzten wir uns an den Frühstückstisch. Mutter goss Kaffee ein. Wir aßen schweigend. Mutter kaute, als müsste sie Steine zermalmen. Ihr kurz geschnittenes Haar war grau und glatt, ähnelte einem Helm aus Metall. Ihre Finger bewegten sich fahrig, ständig fiel ihr etwas aus der Hand. Am Ende sagte ich etwas, das wie von selbst kam: Muttilein. Ich sagte es so, wie ich es als Kind getan hatte. Ich weiß nicht, wie sie reagierte. Ich konnte sie nicht anschauen, nicht in diesem Moment. Es ging nicht anders, meine Augen waren kurz vorm Überlaufen.

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      Der Kellner kam zurück und fragte, ob ich mich entschieden hätte. Ich bestellte eine Schwarzwaldforelle, obgleich ich den Schwarzwald nicht mochte. Auch Mutter mochte ihn nicht, die Wälder dort waren zu dunkel und die Berge zu hoch. Auch als Vater sie zum Titisee schleppte, ließ sie das kalt. Schwarzwalds Perle, das sei ihr schnuppe, sagte sie, der See spiegele schließlich die Berge. Nicht wie in Ostpreußen, wo die Seen den Himmel spiegelten.

      Mutter mochte auch keine Perlen. Sie seien wie Fischaugen, sagte sie, wenn man die Fische kochte. Bernstein hingegen liebte sie.

      Als wir in Waldstadt wohnten, fuhren wir oft nach Gmünd, der zehn Kilometer entfernten Bezirkshauptstadt. Und immer gingen wir durchs Predigergässle, wo es ein Juweliergeschäft gab, das Bernsteinschmuck im Schaufenster liegen hatte. Obwohl nichts davon so unvergleichlich schön war wie jener Bernstein, den Mutter einmal besessen hatte. Sie hatte ihn am Frischen Haff gefunden, sagte sie, es war ein honiggelber Bernstein, der die Spitze eines Libellenflügels einschloss. Sie hatte ihn den ganzen Krieg über bei sich getragen, bis er wie alles andere verschwunden war.

      Als Kind dachte ich manchmal an diese Libelle, wenn ich im Bett lag und Mutter das Licht ausgeschaltet hatte und gegangen war. Ich stellte mir vor, wie ein heftiger Windstoß sie packte und gegen einen Baum, gegen das herausquellende Harz schleuderte. Wie sie mit einem Flügel kleben blieb und mit dem anderen verzweifelt flatterte, bis sie, als die Dunkelheit hereinbrach, still dasaß, vollkommen still, und nur die dünnen Beine noch ab und zu zitterten.

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      Ein Mann kam und fragte, ob er an meinem Tisch Platz nehmen dürfe. In seinem Blick funkelte etwas. Das erlosch, als ich Nein sagte und dass ich allein bleiben wolle, ich hätte soeben meine Mutter im Kühlraum gesehen, starr und tot. Ich habe ihm meine tote Mutter an den Kopf geworfen. Er sagte Entschuldigung und setzte sich an einen Tisch am anderen Ende des Saals.

      Ich wollte aufspringen, wollte nach draußen laufen, weg aus dem Restaurant, in dem Männer Angelhaken in den Augen hatten, weg aus dem Hotelzimmer, dessen Aussicht einem das Herz abschnürte, weg von Mutter, die zusammengeschrumpft in einem Kühlraum lag. Sollten sie die Forelle doch in den Abfalleimer werfen. Dennoch blieb ich sitzen und starrte in die Kerzenflamme, auch sie erzitterte zuweilen.

      Mit lautlosen Schritten kam der Kellner zurück und stellte Wein, Wasser und Brot auf den Tisch, wie Köstlichkeiten. Vielleicht sah er das so, oder er hatte diese Gesten bei der Gastronomieausbildung gelernt. Als er sich vorbeugte, fiel ein dunkler Schatten auf seine Wange.

      Ich fragte ihn, wo er aufgewachsen sei.

      In Frankfurt, sagte er, mitten in der Stadt.

      Sehne er sich dahin zurück?

      Manchmal, sagte er. Dort war mehr los. Ich sagte nicht, dass es für mich nichts Schlimmeres gab als dieses Mehrlossein. Heftige Sehnsucht nach Lech packte mich, ich wünschte mir, in seinen Armen zu liegen.

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      Ich musste an den Tischler aus Waldstadt denken, der plötzlich verschwunden war. Vater hatte mir nach seinem ersten Schlaganfall von ihm erzählt. Es war, als hätte dieser Schlaganfall eine Sperre geöffnet, Vater sprach über alles, auch über Dinge, über die man mit seinem Kind nicht spricht.

      Eines Morgens, sagte Vater, als die Frau des Tischlers wach wurde, war der Tischler verschwunden. Auf seinem Kopfkissen lag ein Brief, in dem er ihr mitteilte, er sei gezwungen zu gehen. Er müsse nach Jerusalem pilgern. Und neben dem Brief lag ein Penis aus Holz, der genauso war wie sein eigenes Glied, wenn ihn die Lust nach ihrem Körper überkam. Mit allen Blutgefäßen an der Oberfläche und mit einer Eichel, die der Tischler poliert hatte, sodass sie wie seine eigene glänzte. Wenn es zu schwer werde, ihn zu entbehren, schrieb er, eine Pilgerreise nach Jerusalem könne Jahre dauern.

      Er kam zu ihr zurück, kurz bevor wir aus Waldstadt fortzogen, nach zehn Jahren Wanderschaft. Falls er das wirklich war. Der Tischler hatte dickes dunkles Haar gehabt, der zurückkam, war glatzköpfig. Und der Glatzköpfige hatte ein anderes Gesicht, zerfurcht und nahezu schwarz. Und eine heisere Stimme, nicht die klare, die der Tischler gehabt hatte. Doch als er sein Glied hervorholte … und die Frau des Tischlers es in die Hand nahm und die Augen schloss, sagte sie, doch ja, sie erkenne alles wieder, besonders das Pochen.

      Später, als sie zusammen im Bett waren, erzählte sie, die Leute hätten ihr in den Ohren gelegen, sie solle ihn für tot erklären lassen. Das aber habe sie nicht fertiggebracht. Nicht, wo er doch Nacht für Nacht in ihren Schoß eingedrungen war. »Ich weiß«, hatte er gesagt, »sogar als ich auf dem Ölberg stand.«

      »Ungefähr so haben sie gesprochen«, sagte Vater, was auch immer er darüber wissen konnte. Er saß auf der blauen Nappaledercouch mit einem Kissen im Rücken, es war keins der bestickten, sondern ein flaches, bezogen mit rotem Frotteestoff, einem Kissenschutz, wie Mutter sagte. Denn Vater hatte einen Buckel, der überall Löcher hineinrieb.

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      Der Kellner kam zurück mit einem riesigen weißen Teller, auf dem die Forelle lag. Sie sah verloren aus, obgleich sie auf einem Bett aus Mangold ruhte, daneben ein Häufchen glänzenden Kartoffelpürees. Und obgleich der Koch auf die leere Porzellanfläche aufmunternde Schnörkel mit einer blassroten Soße gemalt hatte. Vielleicht lag es an der Farbe der Fischhaut. Sie hatte einen Glanz, der sich nicht entschließen konnte, ob er blau oder schwarz sein wollte.

      Ich begann zu essen. Das Fischfleisch war saftig und zart. Es war leicht, sich einen klaren Bach vorzustellen, in dem die Forelle zuweilen einen Sprung tat, aus Lust am Leben oder aus Neugier, um zu sehen, was es oberhalb der Wasserfläche gab, um einen kurzen Blick auf ein anderes Leben zu werfen.

      Wie lange hatte Mutter auf ein anderes Leben gewartet? Vielleicht hatte sie aufgegeben, als Vater starb. Als alle verschwunden waren. Auch ich. Als das Einzige, was es noch gab, Leere war.

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