Nächstes Jahr in Berlin. Astrid Seeberger
Vater starb, war die Leere in Mutter so groß geworden, dass sie fast nicht mehr existierte. Sie konnte sich an nichts von seinem Begräbnis erinnern. Nicht an die Musik, die gespielt worden war, an keins der Worte, die der Pfarrer gesagt hatte. Nicht einmal daran, wie sie mit der Urne zum Friedwald gegangen waren. Nur an das Loch in der Erde, in dem Vater verschwand.
Am Abend nach dem Begräbnis brach sie zusammen. Sie saß am Esstisch, ohne das übliche Kreuzworträtsel. Und starrte die Tischdecke an, auf der zwischen schneebedeckten Tannen braune Kreuzstichhasen mit rosa Nasen saßen, sie blickten zu einem großen gelben Stern mit Kometenschwanz empor, der über allem erstrahlte. Die Decke hatte sie bestickt, als ich noch ein Kind war, und Vater hatte danebengesessen und Weihnachtslieder auf seinem Waldhorn gespielt.
Ich sagte zu Mutter, dass ich Vater hörte, wenn ich die Decke sähe. Sie schüttelte den Kopf, dann brach sie in Tränen aus, in ein endloses Weinen, als gäbe es einfach keinen Trost. Und sie sagte etwas, das ich nur schwer verstand, obwohl sie es ständig wiederholte: dass sie schuld daran sei, dass Vater gestorben war.
Sie war mitten in der Nacht durch ein Rumsen aufgewacht, es klang, als hätte jemand einen schweren Sack fallen lassen. Sie hatte die Nachttischlampe angeschaltet und gesehen, dass Vaters Bett leer war. Sie hatte sofort gewusst: Er war aufgestanden, er, der absolut nicht allein aufstehen durfte, und war wieder hingefallen. Nach seinen Schlaganfällen hatte er ein Problem mit dem Gleichgewicht und sollte sie wecken, wenn er zum Wasserlassen rausmusste, damit sie ihm helfen konnte. Es ließ sich nicht ändern, dass er sie mehrmals in der Nacht brauchte. Und auch nicht, dass sie zuweilen knurrte, weil sie nicht eine Nacht hatte ungestört schlafen dürfen, und das schon seit mehreren Jahren.
Zuweilen hatte er versucht, allein zur Toilette zu gehen. Manchmal war es gutgegangen, dann wieder war er gefallen. Und jedes Mal, wenn er fiel, brachte sie ihn allein nicht wieder auf die Füße, er war zu unbeholfen und schwer. Sie musste den Hilfsdienst vom Roten Kreuz anrufen, der rund um die Uhr bereitstand. Das aber war teuer. Und in dieser Nacht war er schon einmal da gewesen.
Sie war aus dem Bett gesprungen und hatte Vater im Flur auf dem Boden gefunden, er lag mit seinem mächtigen Buckel auf der Seite und fuchtelte mit seinen dünnen Armen und Beinen in der Luft herum, einem riesigen Käfer gleich. Dieses hilflose Gefuchtel hatte sie vollkommen in Rage gebracht, sie hatte sich auf ihn gestürzt und Dinge geschrien, die sie nie hätte sagen dürfen.
Und Vater hatte mit dem Gefuchtel aufgehört und still dagelegen, vollkommen still, als hätte er begriffen, dass es für ihn keine Hilfe mehr gab. Dann hatte er mit einer Stimme, die ganz tonlos geworden war, gesagt, sie würde ihn hassen, als wäre das eine Tatsache, eine unumstößliche Tatsache. Es hatte nichts genützt, dass sie ein Nein hervorbrachte.
Und mit derselben tonlosen Stimme hatte er ihr befohlen, einen Krankenwagen zu rufen. Er, der sich sein Leben lang geweigert hatte, ins Krankenhaus zu gehen, auch als er seine Schlaganfälle erlitt. Sie kniete neben ihm und bat ihn um Verzeihung. Er dürfe sie nicht verlassen, er sei ihr Leben. Er aber hatte nur gesagt: »Ruf an.« Am Ende hatte sie die Nummer des Notrufs gewählt, viermal musste sie es versuchen, weil ihre Hände so zitterten. Dann hatte sie ihre Daunendecke geholt und sie über ihn gebreitet.
Er hatte mit weit offenen Augen auf dem Boden gelegen. Und sie hatte neben ihm gehockt. Keiner von beiden war auf den Gedanken gekommen, das Licht im Flur anzuschalten. Durch die offene Tür des Schlafzimmers war ein Lichtstrahl von der Nachttischlampe auf Vaters nackte Füße gefallen. Sie sah die Fußgewölbe, wo die Haut wie bei einem Kind rosig war. Und Worte versuchten aus ihr herauszukommen, Worte, die seit vielen Jahren nicht gesagt worden waren, die sie vielleicht nie zu Vater gesagt hatte. Hätte er nicht, als sie ihn gerade sanft berühren wollte, mit derselben tonlosen Stimme gesagt: »Lass das!« Es schnürte ihr die Kehle zu, und die Worte blieben stecken. Sie hockte weiter auf dem Boden, stumm, vollkommen stumm, genau wie er. Als gäbe es für sie beide keine Sprache mehr.
Sie hatte ihn ins Krankenhaus begleitet. Sie begriff sofort, was die Ärzte sagten: dass Vaters Herz versagte. Auch ihr Herz hatte das getan, doch auf viel schlimmere Weise. Zwölf Tage nach der Ankunft im Krankenhaus war Vater gestorben. Jede Nacht aber kam er zu ihr: fiel mit einem Rumsen im Flur zu Boden, immer wieder und wieder. Sprang sie dann aus dem Bett, war er nicht da, kein einziges Mal, niemals mehr.
Auf der Insel, den 18. Januar 2013
In der Kardiologie hatte ich heute eine Patientin. Man hätte meinen können, unter der Krankenhausdecke liege ein Kind, wäre ihr Haar nicht so grau gewesen. Es war eine schmächtige kleine Frau mit großen braunen Augen, die ein Nierenversagen erlitten hatte, weil ihr Herz zu schwach war. Sie war Jüdin, stammte aus Lublin im Südosten von Polen und war mit ihrem Mann nach Schweden gekommen.
Es sei wichtig, dass sie rasch wieder gesund werde, sagte sie. Sie müsse nach ihrem Mann sehen, der in einem Heim für Demenzkranke lebe. Sie fuhr täglich zu ihm, obwohl er sie nicht mehr erkannte. Sein Arzt hatte gesagt, die Demenz sei wie eine Glasglocke, die den Menschen einsperre. Sie hatte auf jede erdenkliche Weise versucht, die Glasglocke zu durchdringen, hatte geredet, geschrien, mit den Fäusten dagegengehämmert, doch vergeblich. Er war das Einzige, was sie hatte, Kinder hatten sie nie bekommen.
Eines Tages, als sie neben ihm saß, vollkommen verzweifelt, hatte sie ein Lied gesummt, das die Juden in Lublin gesungen hatten. Und plötzlich hatte er eingestimmt, laut wie eine Posaune, hatte die letzte Zeile Mal um Mal wiederholt: Nächstes Jahr in Jerusalem. Das geschah immer wieder, wenn sie die Melodie summte oder sang. Also sang sie für ihn, Tag für Tag. Und er für sie, durch einen Sprung in der Glasglocke.
Als ich die Kardiologie verließ, blieb ich einen Moment in dem gläsernen Gang auf der achten Etage stehen. Die Birken im Innenhof wirkten verlorener als sonst. Im Frühjahr, wenn sich die zarten Blätter zeigten, schienen sie zu dem Stückchen Himmel über sich emporzuschweben. Jetzt aber nicht, jetzt waren sie zwischen den Betonwänden gefangen, wie in der Tiefe eines Brunnens.
Stuttgart, den 27. November 2007
Als ich mein Frühstück im Hotel eingenommen hatte, am Tisch neben der dunklen Wand, an der Wasser hinabrann, ging ich zu Mutters Wohnung. Es gab einen Weg dorthin, auf dem man dem Verkehr entkam, einen asphaltierten Fußweg neben einem Bach, der durch eine vermeintliche Idylle floss: eine Ansammlung eingezäunter Schrebergärtchen, in denen Gartenzwerge die Pflanzungen bewachten.
Es war Vormittag. Eine junge Frau mit großen, klimpernden Ohrringen sauste mit einem Kinderwagen vorbei, als ginge es um Leben und Tod. Ein alter Mann in einem langen grauen Mantel mit Fischgrätmuster durchwühlte beharrlich einen Papierkorb auf der Suche nach Pfandflaschen. An einem Anschlagbrett brachte eine stark geschminkte Frau mit schwarzer Lederjacke und rabenschwarzen Haaren ein Plakat an, das für einen Intensivkurs in Mindfulness warb: »Werde ein neuer Mensch in nur sechs Tagen«. Ein Parkarbeiter, der an einen gealterten Fellini erinnerte, studierte das Plakat eine Weile. Dann fuhr er mit dem Aufsammeln des Mülls fort, packte rasch und elegant mit einem langen, zangenbewehrten Stab zu, auch bei einem benutzten Kondom, das an einem Busch hing. Ich blieb stehen. Wie konnte sich das, was einmal mein Land gewesen war, so fremd anfühlen? Allerdings hatte Stuttgart nie zu meinem Land gehört. In meinem Land gab es ein Waldhorn und eine Terrasse, auf der man sich Abend für Abend Geschichten anhören konnte. Auch wenn die Terrasse erst später kam. Zuerst kam das Waldhorn. Irgendwie aber gehörten sie zusammen.
Ich musste an das erste Wochenende in Stuttgart denken, nach dem Umzug von Waldstadt. Wir saßen um den alten Küchentisch herum, den Mutter wegschmeißen wollte. Einen ordentlichen Eichentisch sollten wir uns kaufen, mit ordentlichen Eichenstühlen, jetzt, wo Vater Abteilungsleiter geworden war. Alles sollte standesgemäß sein, sagte sie, jetzt, wo wir ein neues Leben begonnen hätten.
Vater saß auf seinem alten Hocker, wie immer, wenn er Waldhorn spielen wollte. Er hatte die ganze Woche nicht gespielt, nicht bevor alles in Ordnung gekommen war. Jetzt aber hatte er das Waldhorn hervorgeholt, seine Augen leuchteten. Er führte es zum Mund wie ein Verliebter, der sich nach den Lippen seiner Liebsten sehnt. Und begann